Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Wir machen noch einen Umweg zum Bahnhofskiosk. Dort hält er auf einem gelben Feld an, ohne dass ihn die Huperei des Taxifahrers im Geringsten beeindruckt. »Geh, hol mir schnell ein Päckchen Gauloises!«
Onkel Raoul hält seine Zigarette wie die Filmstars im Mundwinkel. »Was macht die Schule, bist hoffentlich eine gute Schülerin! Die Beste?«
Bei seinem scheelen Seitenblick nicke ich vorsichtshalber.
»Was hast du am liebsten?«
»Deutsch und Singen.«
»Und Rechnen? Rechnen ist das Wichtigste, Mathematik ist das A und O .«
Wie von Geisterhand öffnet sich sein Autofenster. Er wirft die Zigarette, an der er keine fünf Mal gezogen hat, hinaus, und während wir auf die Dorfkreuzung zufahren, schaut er seelenruhig zu mir, lächelt. »Ist automatisch, die Türen lassen sich ebenfalls automatisch schließen«, erklärt er.
Begeistert drücke ich den Fensterknopf. Das Gesicht nun schräg im Wind, spüre ich, wie mir die frische Luft um die Ohren saust …
»Mach zu!«
»Warum ist Vroni eigentlich nicht mitgekommen?«
»Weil sie krank ist.«
»Fest krank?«
»Ich glaube nicht. Das Kranksein hängt bei ihr von ihrer Laune ab.«
Vor der Kirche wartet Mama mit Papas Schwestern auf uns. Wir haben befürchtet, sie hätten den Zug verpasst, »aber jetzt seid ihr da!« Ich küsse sie gleich doppelt vor Freude und bin stolz, sie ohne »Tanta« beim Vornamen zu nennen. Die meisten Verwandten sind schon drinnen. Mama und Bethli wollen ihre Zigaretten zu Ende rauchen. Sofort greift auch Onkel Raoul nach seinen Gauloises. Helen und ich gehen in die Kirche hinein, sie hält dabei ihren Arm um mich.
Die Firmlinge sitzen mit ihren Göttis rechts in der vordersten Reihe, die Mädchen mit ihren Gotten links. Papa hat Anton für den heutigen Tag gelehrt, wie man die Krawatte bindet. Ich bin gespannt, ob die anderen Buben auch schon eine Krawatte tragen. Die Fliege mit dem Gummizug hat Koni bekommen, er hat sie zum Schlafen gleich umbehalten. Heute Morgen war an seinem Hals ein roter Striemen; es hat mich an den Gehängten vom Wald erinnert und mir einen Schrecken eingejagt. Die Mädchen sind auch alle in Dunkelblau, in ihren Deux-Pièces sehen sie wie kleine Damen aus. Margrits älteste Schwester muss das Sonntagskostüm ihrer Mutter tragen. Obwohl sie als Hausmeister verbilligt im Block wohnen, bringen sie den Zins kaum auf. Sogar den herzigen Zottelhund haben sie weggegeben. Ein Auto haben sie natürlich nicht. Mama hat sie auf die Liste genommen zu den Familien, denen wir am Abend vor Weihnachten einen Korb mit Geschenken vor die Tür stellen.
Beim Altar passiert so viel, dass ich gar nicht mehr nachkomme, wer was ist und wer was macht. Die Firmlinge haben sich bis jetzt noch nicht von der Stelle gerührt.
»Du, Helen, wer von denen da vorne ist eigentlich der Bischof?«
Sie bückt sich zu mir, »der mit der hohen Mitra. Ich habe aber vergessen, wie euer Bischof heißt.«
»Von Streng.«
»Der sieht ja noch strenger aus, als er heißt«, sagt Helen mit einem Ausdruck, den Großmama respektlos nennen würde. Ich finde das spannend, so eine unfromme Tanta zu haben.
Nachdem schon ein paar Leute den Kopf gedreht haben, schaue auch ich nach hinten. Das ist doch …! Ich stoße Helen in die Seite, »du, guck mal, wer hereinkommt!«
Es ist Onkel Valentin! Seelenruhig schreitet er durch den Mittelgang – im Schlepptau seinen Hund, den Schäfer Beppo. Vorne schnellt der Sigrist von seinem Hocker auf, eilt die Wand entlang zur Treppe, knickt beim ersten Absatz kurz ein, fängt sich wieder, geht vor den Firmlingen durch und kommt händeringend auf Onkel Valentin zu. Er flüstert ihm etwas ins Ohr. Alles andere als beschämt, geradezu erheitert macht mein Onkel kehrt. Dicht hinter ihm trottet Beppo zur Tür.
Anton hat von seinem Firmgötti eine Armbanduhr bekommen, mit der er sogar die Zeit stoppen kann. »Nachts leuchtet sie«, blufft er. Eine lederne Schreibmappe kriegt er auch. Und Großmama schenkt ihm das kostbare Missale, das einst Großpapa Hans gehört hat.
Im Salon macht sich Onkel Valentin wortstark über den entgeisterten Sigrist lustig – Großpapa lacht nicht mit. Helen zieht mich etwas zur Seite. »Hier, für dein Sparkässeli.« Ich laufe damit in die Küche, »schau, Mariella!« Sie freut sich mit mir. Dann sagt auch sie »Guarda!« Sie zeigt auf Beppo. Während unser Hund im Keller jault, schlabbert dieser Fremdling unterm Tisch Blitz’ Fressnapf leer.
Vor dem Zubettgehen hole ich das Sparkässeli aus
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