Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
traurig.
»Schi pofft nur«, erklärt Mama, »spielt wieder mal beleidigt, weil nicht alles nach ihrem Kopf geht.«
»Das ist bei Kindern vielleicht auch eine Art der Trauer«, sagt er.
Großpapas »äch wa« schüchtert Herrn Ferrazzi offenbar ein. Nach kurzem Schweigen rückt er den Stuhl nach hinten, bedankt sich für das Essen und hält seine Hand behutsam auf die von Großpapa. »Also, wenn Sie so weit sind, würde ich gerne wieder an die Arbeit gehen.«
Auf dem Bild ist Großpapa sehr ernst. Mama hätte ihn später lieber lächelnd an der Wand. Sie gibt das Herrn Ferrazzi gegenüber ungeniert zu, der jedoch antwortet: »Das würde nicht dem Charakter Ihres Schwiegervaters entsprechen!«
Manchmal, sagt Mama, hat unser Gast einen etwas belehrenden Ton.
Der Künstler und der Mönch
Beim Familienmorgen in der Praxis kann sich keiner drücken, jeder muss um neun im Auto sein, mit oder ohne Frühstück, aber mit blitzblank geputzten Zähnen. Papa fährt heute allerdings nicht direkt nach Grenchen. Kommentarlos verlässt er die Schnellstraße Richtung Bellach. Bei einem Mehrfamilienhaus mit drei Stockwerken und zwei Eingängen hält er an, wir sollen aussteigen.
»Das ist nun unser Block!«
Dieses riesige Haus soll uns gehören?!
»Gestern wurde unterschrieben, und wenn wir in der Praxis fertig sind, essen wir in Altreu Fisch und feiern«, sagt Papa. »Der heutige Donnerstag ist der Beginn einer neuen Ära!«
Da alle Wohnungen vermietet sind, können wir nur um den Block herum-, nicht aber hineingehen. In einer offenen Garage steht ein Rennrad, das Anton interessiert.
»Bald kommen jeden Monat Mietzinse rein!«
»Sind wir dann reich«, fragt Koni.
»Reich an Schulden – zumindest vorläufig«, sagt Papa.
Mama ist wie bei jeder Familienbehandlung das Praxisfräulein. Dabei mahnt sie Papa gern, er solle sich Zeit nehmen. Ich weiß schon, warum sie das tut! Leider geht es wieder dem Alter nach. Anton zuerst. Während er auf dem Stuhl sitzt, kann ich nur daran denken, dass ich es noch vor mir habe. Jetzt kommt er mit einem Grinsen, das durch die Spritze noch schräger ist als sonst, aus dem Sprechzimmer und sagt spöttisch: »Ich warte also unten«. Unten heißt Tearoom, wer fertig ist, darf sich dort etwas Süßes nehmen. Heute sollen wir nur etwas trinken, sagt Mama, »sonst habt ihr in Altreu keinen Appetit mehr!«
Mamas Hoffnung hat sich erfüllt: Papa ist nicht mehr dazu gekommen, auch ihre Zähne zu behandeln.
»Macht doch nichts, Schpazzji.« Sie lächelt ganz erleichtert, »ich kann ja jederzeit nach Grenchen kommen, wenn ein Patient ausfällt oder so.« Mama hat vor dem Bohrer vermutlich noch mehr Angst als wir.
Im
Grünen Affen
in Altreu will Papa für alle Forellen bestellen. Mama legt für uns drei Kinder jedoch ein gutes Wort ein, wir dürfen Pommes frites mit Schnitzel haben. Plötzlich kommt Onkel Linard zur Tür des Gasthofs herein und an unseren Tisch. »Darf ich auch so dazustoßen?«
Er zeigt auf seinen Trainingsanzug. Mama heißt ihn mit einer Umarmung willkommen. Sie hat ihn heimlich eingeladen, Papas Freude ist groß. »Und wo hast du die Jungmannschaft gelassen?«
»Die Buben hatten schon was abgemacht. Ich bin mit dem Kajak hier! Aare aufwärts. Nicht gerade ein Schleck, das könnt ihr mir glauben!«
Stolz tätschelt er mit der Hand seine Armmuskeln. Er hat noch immer beide Eheringe am Finger. »Lasst euch beim Essen durch mich nicht stören, ich genehmige mir sowieso zuerst ein Bier.«
Onkel Linard trinkt sein Bier hastig, ein zweites allerdings lehnt er ab. Er lässt sich das Weinglas füllen, steht damit auf und setzt zu einer Rede an: »Auf meinen alten Kommilitonen, auf seine tolle Praxis und seine neue Errungenschaft! Und auf unsere damalige Nacht der Nächte!«
»Was für eine Nacht?« Koni und ich fragen das quasi im Takt. »Wir sind im Vorgärtchen unserer Schlummermutter gesessen und haben uns mit dem billigsten Wein ins trunkene Elend gesoffen. Euer Papa hat das Studium aufgeben wollen, und ich habe wegen einer aussichtslosen Liebschaft das Kloster in Betracht gezogen.« Nun zu Papa gewendet fährt er fort: »Du hast dich schon als Künstler in den Pariser Vierteln gesehen, und ich mich als zölibatärer Mönch in einer Klause. Da ist uns der Wein ausgegangen. Wir haben uns über den Schnaps der Schlummermutter hergemacht, der hat zwar noch schlechter als Sprit geschmeckt, aber irgendwie haben wir uns ja für den großen Schritt Mut antrinken müssen. Nachdem du
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