Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
zufällig
Onkel Hardi vorbei. Papa freut sich riesig über den Besuch. In warme Decken gehüllt, betten sie sich auf die Liegestühle und genießen die Frühlingssonne. Maria hat einen Glühwein zubereitet. Die Thermosflasche und die Gläser stellt sie auf eine Kiste, die zwischen den beiden als Tischchen dient. Tosca sitzt neben Papa auf einem Schaffell. Papa schickt mich ins Haus. Ich hole meine Handarbeit und stricke im Zimmer hinter der Terrasse an diesem blöden Osterhasen weiter. Bis Gründonnerstag müssen wir ihn fertig haben. Normalerweise strickt Mama mein Zeug für die Arbeitsschule, aber vor ihrer Abfahrt hat sie es nur bis zum Bauch des Hasen geschafft. Ich muss mir wahnsinnig Mühe geben, die Maschen so schön eng zu machen wie sie. Das Fenster ist einen Spalt breit geöffnet: Papas Freund erzählt immer interessante Dinge, und wenn es nichts für Kinder ist, ist es doppelt interessant. Nun allerdings reden sie über mein unliebsamstes Thema, Papas Krankheit, und Onkel Hardis Ton ist gehässig.
»Ausgerechnet du willst mir weismachen, vor dem Tod keine Angst zu haben? Du bist doch Katholik!«
»Was soll das heißen?«
»Dass ihr Katholiken nach dem Tod noch einiges durchzustehen habt, bevor ihr zur Rechten Gottes sitzen dürft. Oder meinst du im Ernst, dir, ausgerechnet dir bleibe das Fegfeuer erspart?«
Onkel Hardis Lacher ist kurz und giftig. Keiner sagt mehr etwas. Sie schenken sich Tee nach. Ich würde jetzt lieber Papa hören, als wieder diesen Onkel Hardi.
»Du kannst doch als intelligenter Mensch nicht im Ernst an eine Auferstehung und an ein Leben nach dem Tod glauben?«
»Du hast ja auch keinen Infarkt gehabt, ich aber bin dem Tod verdammt nah gewesen.«
»Jetzt werde mal nicht pathetisch. So seriös, wie du nun lebst, kannst du hundert werden!«
Bevor Papa etwas entgegnet, jagt er in unwirschem Ton Tosca weg. Offenbar hat sie versucht, auf sein Liegebett zu steigen.
»Weißt du, Hardi, ich habe eigentlich deine Wandlung vom guten Katholiken zum Atheisten nie begriffen – so plötzlich, so ohne Grund.«
»Plötzlich? Ohne Grund? Wie die armen Schweine haben wir doch gelitten, du auch, mein Lieber! Hast du das Kollegium in Schwyz aus deinem Gedächtnis gelöscht? Ich könnte dir unser lateinisches Libidogedicht noch heute aufsagen – zehn Kirchendienste und einen Brief an die Eltern haben uns die lustvollen Reime eingebracht … Ganz zu schweigen von der peinlichen Beichte bei Pater Eusebius.«
»Ach, hör schon auf!«
»Der Katholizismus ist die schlimmste Diktatur, die es gibt. Noch schlimmer als der Kommunismus, sag ich dir! In Russland wirst du der Lebensfreude auf viel weniger perfide Art beraubt. Dort wird dir wenigstens offen gesagt, worum es geht. Um Macht. Soll ich dir sagen, was das größte Verbrechen der Kirche ist? Dass sie uns verformt und uns uns selber entfremdet. Ist es nicht das größte Armutszeugnis, wenn das Gewissen nurmehr eine Verpflichtung gegenüber einer bestimmten Instanz ist?!«
Papa ruft Maria und bittet sie, ihnen Cognac zu bringen. »Ich kann dieses süße Zeug nicht mehr trinken, und du? Um auf die Auferstehung zurückzukommen: Es schadet doch nicht, daran zu glauben – mir zumindest macht das von allem noch die geringste Müh. Gibt es das Leben danach nicht, gibt es auch Gott nicht, und dann ist halt mit dem Tod alles fertig.«
»Pass auf, jetzt redest du wie ein Agnostiker. Mir scheint, mir scheint, wir kommen einander schon näher. Aber wollen wir nicht drinnen weitermachen? Mir ist es hier zu kalt.«
Nachdem Onkel Hardi und Papa zum Nachtessen weggefahren sind, zeigt mir Maria den Aschenbecher von der Terrasse und jenen vom Herrenzimmer. Laut zählen wir die Stummel, »undici sigarette!« Hat sich Papa von seinem Freund zum Rauchen verführen lassen? Bei Mama sind die Filter zumindest rot, da weiß man genau, was sie und was der Besuch geraucht hat. In letzter Zeit zündet Papa regelmäßig Mamas Zigaretten an und übergibt sie ihr erst nach einem ersten tiefen Zug … Das gibt ihm das Gefühl von Gesundheit, sagt er.
Koni und ich schlafen im Elternbett. Mama weckt uns und trägt Koni auf ihrem Rücken in sein Zimmer. Im Halbschlaf hält er seine Hände um ihren Hals, ich gehe hinter ihnen die Treppe hoch und stütze Konis Popo, damit Mama sich nicht überanstrengt.
Maria will nicht bei uns bleiben, bis wir ein neues Dienstmädchen haben. Mama ist enttäuscht.
»Das ist rücksichtslos, nachdem sie es hier so gut hat. Wenn sie schon eine
Weitere Kostenlose Bücher