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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Selbstkosten! Sogar die Zeit, in der wir telefonierten, hat er berechnet! Kannst du dir so etwas vorstellen, der eigene Bruder?!«
    Endlich kommt Mama zu Wort. »Vielleicht hat Heinrich das Gefühl, dass du seine Arbeit zu wenig geschätzt hast.«
    »Soso. Und deshalb macht man eine überhöhte Rechnung. Soll ich ihn etwa für seine Minderwertigkeitskomplexe bezahlen?!«
    »Du, die Kinder …« – Mama zeigt mit einer Kopfbewegung auf uns.
    Papa realisiert, dass Anton noch gar nicht am Tisch ist. »Hol ihn!«
    In diesem Moment erscheint er. Aus seinem verschlafenen Gesicht ist ein kurzer müder Gruß zu hören.
    »Kannst du nicht wenigstens anständig guten Morgen sagen, wenn du schon eine halbe Stunde zu spät zum Frühstück erscheinst?!«
    Nach kurzem Klopfen bringt Elvira Nachschub. Sie stellt die aufgefüllte Kaffeekanne auf den Tisch und lächelt Papa an. Seit sie vorne alle Zähne hat, lächelt sie oft. Obwohl sie wie ein altes Weibchen zur Tür hinaushumpelt, dünkt mich, ein Engel sei vorbeigekommen.
    Anton gelingt es, Papa durch sein Interesse an der Politik zu versöhnen. Er erkundigt sich nach dem
Internationalen Frühschoppen
im Fernsehen, blufft mit Abkürzungen wie EWG und USA und verspricht unaufgefordert, ein bisschen öfter die Zeitung zu lesen. Ich möchte lieber nichts von diesen politischen Dingen wissen. Es macht mir Angst, wenn Papa sagt, die Russen könnten ihre Raketen bis Amerika schießen. Mama meint zwar, es werde keinen Dritten Weltkrieg geben, »man hat vom Zweiten gelernt!« Doch ihr Ausdruck sagt etwas anderes.
    Bevor wir losfahren können, regt sich Papa erneut auf. »Um elf beginnt die Messe, jetzt ist es fünf vor! Wir finden bei der Kathedrale keinen Parkplatz mehr, wenn du nicht endlich vorwärtsmachst!«
    Alle sitzen wir im Auto – und Mama muss noch einmal zurück ins Haus: Ihre Handschuhe passen nicht zur Handtasche.
    »Jeden Sonntag dasselbe!«, schreit Papa ihr nach.
    Mama kommt überallhin zu spät. Das regt außer Papa keinen auf. Mama kann kommen, wann sie will, und gehen, wohin sie will, alle freuen sich, das merkt man an ihren Reaktionen. Die Leute haben Mama gern, weil sie nicht nur hübsch, sondern ebenso charmant ist und immer gut gelaunt.
    Auch dem Coiffeur ist es völlig egal, dass wir mindestens zehn Minuten nach dem Termin da sind. »Hallo, Frau Doktor, Sie sehen ja heute wieder blendend aus!« Er hilft ihr aus dem neuen Regenmantel und weist sie auf ihren Lieblingsstuhl. Während Mama unter der Haube sitzt, widmet sich der Coiffeur mir. »Ja, Kleine, dein Haar ist schon sehr anders als das von deiner Mutti, dünn und steckengerade. Aber dem helfen wir ab.«
    Zur Lehrtochter ist er weniger nett. Gewisse Anweisungen wiederholt er, als hätte sie bereits etwas falsch gemacht. Dabei hat sie noch nicht einmal begonnen.
    Wie sie nun meine gewaschenen Haare sorgfältig durchkämmt, stellt sich der Chef wieder neben sie. Ungeduldig reicht er ihr die Schere. Nun beobachtet er die Lehrtochter mit einem Gesicht, aus dem jede Freundlichkeit gewichen ist.
    »Neiiin, nicht so viel!«
    Er reißt ihr Kamm und Schere aus der Hand. Nervös ruft er nach seiner Angestellten. Diese dekoriert gerade das Schaufenster und muss erst die Stoffschuhe ausziehen. Nach zwei Sätzen weiß sie, was sie zu tun hat. Nun stellt sich der Coiffeur erneut hinter Mama und lächelt sie durch den Spiegel an. »Kaum ein graues Haar, wie machen Sie das bloß! Ja ja, glückliche Frauen bleiben ewig jung.«
    Als Mama sich bei mir auf einen Kaffee verabschiedet, dreht mir das Fräulein erst den letzten Wickel ein. Danach rollt es den elektrischen Apparat heran und entnimmt ihm Klammer für Klammer. Auf jeden einzelnen Haarwickel wird eine erhitzte Hülse gesteckt. Mein Kopf wird bleischwer. Sitze ich nicht still und kerzengerade, kippt er vornüber oder nach hinten. Außer mir hat kein einziges Mädchen Dauerwellen – ich bin ja so stolz.
    Mama klatscht vor Freude in die Hände, wie sie mich sieht. Wir kehren zurück in den Tearoom, in dem Jacqueline auf uns wartet, die Frau, die seit Papas Zahnkorrektur der Kim Novak gleicht. In der Hauptgasse schaue ich mich in jedem Schaufenster an. Ein fremdes Mädchen geht da an Mamas Hand, ich frage mich, ob es hübsch ist.
    Diese Kim Novak ist zwar sehr freundlich, aber wie ein Filmstar sieht sie nicht aus. Sie ist mager, hat viel mehr Falten als Mama – das einzig Schöne an ihr sind Papas Zähne und die Frisur.
    »Jacqueline hat Krebs«, erklärt mir Mama auf

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