Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
im Garten und einer schrägen Holzbeige neben einer Art Eingang, von dem man nicht weiß, ob er in den Keller oder in die Wohnung führt. Wir sind in einer Sackgasse, Papa kann nicht so schnell umkehren, wie er möchte. Während er hin und her kurvt, kommt eine Frau auf uns zu, sie klopft bei Papas Seite aufs Autodach. »Suchen Sie Wildbolz, Hundezucht Abendruh? Ich bin Frau Wildbolz, Sie haben Glück, gerade noch das reizendste Mädchen ist mir geblieben.«
Mama lehnt sich über Papas Knie zu ihr hinüber: »Danke, wir haben uns bloß verfahren.«
Während wir von unseren Rücksitzen aus bange nach vorne schauen und befürchten, Papa kurble die halboffene Scheibe hoch, an die Frau Wildbolz ihre Finger klammert, macht er das Gegenteil. »Ist das der fragliche Welpe?«
Durch die halboffene Haustür guckt uns ein helles Wollknäuel mit einem spitzen Näschen an …
Keine Stunde später sitzen wir im Restaurant Ilge am Bielersee, essen ohne Widerrede Fisch, und Papa stößt mit »dem besten Twanner, den ich je getrunken habe«, immer wieder auf unseren Familienzuwachs an. Die Sirupgläser klingen zwar nicht schön, dafür gibt unser neuer Hausgenosse unterm Tisch Laute von sich, die bereits ein bisschen nach Bellen tönen.
»Recht inkonsequent«, sagt Mama.
Papa stimmt ihr lachend bei: »Erstens«, sagt er, »wollte ich keinen Collie, zweitens kein Weibchen, drittens haben wir den Hund überzahlt, viertens hat er keinen Stammbaum …« Er bückt sich nach dem zitternden Etwas, hebt es auf seinen Schoß und wird feierlich. »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen – Tosca!«
»Hör auf zu spotten«, mahnt Mama, »dir ist der Wein zu Kopf gestiegen, du bist ihn nicht mehr gewohnt.«
Tatsächlich hängt Papa eine Haarlocke in die linke Stirnhälfte. Das ist immer so, wenn er etwas viel getrunken hat. Mit dieser Haarlocke im Gesicht kann ihn nichts mehr ärgern. Nicht mal »der alti Chlaus« auf dem Parkplatz ärgert ihn, der uns mit seinem umständlichen Manövrieren das Hinausfahren erschwert.
»Jetzt ist alles wieder so wie früher«, flüstere ich Koni zu. Im Lichtschein eines Autos sehe ich, dass auch er strahlt.
Immer regt sich Papa auf
Aber wie früher ist es nicht mehr.
Papa mag noch so oft sagen: »Jetzt reg ich mich nicht mehr auf!« Er tut es trotzdem. Er kann kein neuer Mensch werden. Niemand kann das, sagt Mama. Wenn er mit der Hand an sein Herz greift und tief durchatmet, um sich zu beruhigen, wird mir bange. Mama hat nicht weniger Angst als ich und ist nervös.
»Dein Herzstechen ist nicht normal«, beschwört sie Papa. Besorgt ruft sie heimlich Onkel Arthur an.
Der Arzt hat Papa nebst dem Rauchen zusätzlich das Tennis-spielen verboten. Nun geht Mama auf den Platz – und Papa geht fischen. Auch bei Tisch ist alles anders. Statt Wein trinkt Papa Wasser wie wir, statt mit gewöhnlichem Öl darf Maria nur noch mit Sonnenblumenöl kochen, statt eine Büchse zu öffnen, muss sie Gemüse rüsten, die Milch wird entrahmt, beim Schweinsbraten schneidet Mama das Fett schon in der Küche weg … Nicht einmal am Sonntagmorgen ist es wie früher: Weil Papa neuerdings will, dass wir in der Elfuhrmesse kommunizieren, sollen wir entweder drei Stunden vorher frühstücken oder gar nicht. Ruft dann noch Onkel Heinrich wegen des Prozesses an, ist der Sonntag verteufelt. Wenn es nicht der Wohnblock ist, sind es die hohen Telefonrechnungen oder andere Rechnungen, die Papa wütend machen.
Mama hält ihre Telefonrechnung manchmal ein, zwei Tage zurück, um die schlechte Post etwas zu dosieren. Doch auch häppchenweise ist Papas Reaktion heftig. Er verdient nicht mehr so viel wie vor dem Infarkt, wir müssen sparsamer sein, »wann begreifst du das endlich«, schreit er Mama an.
Ich erzähle Gerda in der Schulpause vom Streit der Eltern, als sie wissen will, warum ich so seltsam bin.
»Ha«, sagt sie, als ob das Geschilderte das Normalste wäre, »du solltest mal hören, wie bei uns herumgeschrien wird!«
Bei Gerda weiß ich nie genau, was stimmt und was nicht. Neuerdings behauptet sie sogar, sie habe von einem Bub einen Kuss bekommen. Aber von welchem, das will sie nicht sagen.
Großpapa fährt morgen aus dem Wallis mit dem Zug nach Bern, um im Inselspital einen einstigen Studienkollegen zu besuchen. Er wünscht, Papa möge ihn begleiten. Aber Mama springt für ihn ein. Papa soll zuhause bleiben und sich schonen. Sie blinzelt mir zu.
Und so kommt denn
ganz
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