Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Nebenstuhls. »Abnormal? Das ist ein gefährliches Wort, manche brauchen es im gleichen Atemzug mit verrückt.«
»Gell, unsere Ursel ist verrückt gewesen.«
»Ja, ich glaube schon. Sie hat Realität und Fantasie nicht mehr unterscheiden können.«
»Was sie jetzt wohl macht?«
»Sie ist bei ihrer Familie, dort geht es ihr sicher besser als bei fremden Leuten.«
»Aber so fremd sind wir für sie doch gar nicht gewesen.«
»Du, wir können nicht den ganzen Nachmittag verschwatzen. Greif wieder zu deinem Rechen, wir wollen es hinter uns bringen.«
Vor der Pause hat Papa weniger Mühe gehabt. Nun muss er seinen Oberkörper fester nach vorne beugen, um den Rasenmäher durch das Gras zu stoßen, das eigentlich noch gar nicht hoch ist. Nach dem Mähen legt er sich in den Gartenkleidern bis zum Nachtessen aufs Bett.
Mama kommt mit einer guten Kunde vom Telefon. Die
Missione Cattolica
hat ein neues Dienstmädchen für uns.
»Weißt du schon Näheres?«
Mama zögert mit der Antwort. Bevor sie Papa Auskunft gibt, blickt sie auf die Uhr, »Kinder, es ist Zeit, ab mit euch ins Bett!«
Alt und hässlich
Elvira ist alles andere als ein Dienst
mädchen
. Wenn Mama sagt, »Elvira wird bei uns alt werden«, frage ich mich, wie viel älter die denn noch werden kann. Ihr Gesicht hat Runzeln, die langen gräulichen Haare trägt sie wie eine Kappe um den Kopf geschlungen, vorne fehlt ihr ein Schneidezahn, die restlichen Zähne sind ganz gelb, zudem stinkt sie aus dem Mund. Koni und ich halten uns auf Distanz. Sie ist nicht bloß klein und abgemagert, diese Elvira, sie hinkt auch noch leicht und zuckt bei der kleinsten Aufregung mit der linken Schulter. Sie hat einen seltsamen Dialekt, alle Wortenden verschluckt sie, dabei kann sie das
s
mit ihrer Zahnlücke sowieso nicht sagen, man versteht sie kaum. Elvira ist keineswegs so alt, wie sie aussieht, versichert Mama. Sie kommt aus ärmsten Verhältnissen und hat viel durchgemacht. Was, weiß auch Mama nicht. Als uns der Parroco Elvira brachte, hat er vor Mama Bücklinge gemacht und betont, dass man in der
Missione Cattolica
größte Stücke auf unsere Familie hält. Papa ist bei Elviras Anblick nicht erschrocken. »Man muss zwischendurch auch Gutes tun«, hat er zu Koni und mir gesagt.
Mama bringt Elvira die Hygiene bei, als erstes das Zähneputzen – und dass sie einmal in der Woche die Haare waschen muss. Sie geht mit ihr Kleider kaufen, lehrt sie kochen und Tisch decken. Und alle paar Tage fährt sie mit Elvira nach Grenchen zu Papa in die Praxis. Ich sehe sie bei Papa auf dem Stuhl sitzen und wie er in ihren grausigen Mund langen muss – also Zahnarzt werden, das möchte ich nie!
Am Telefon mit ihren Schwestern sagt Mama immer gleich zum Auftakt, »di niw Jungfröi, isch zwar kei jungi Fröi me«, und dann lacht sie und fügt hinzu: »Aber es ist schön, so einem armen Menschen helfen zu können«. Elvira soll es bei uns gut haben. Mama und Papa reden nun oft von
sozialem Engagement
.
Gerda sagt, das sei ja ganz schön, wenn man mehr an die anderen als an sich selber denkt, nur sollte es auch andauern. »Solche Phasen«, erklärt sie, »hat mein Vater jedesmal nach einem Asthmaanfall. Dann ist er zu allen viel netter, zu den Arbeitern, zur Mutter, manchmal gibt es sogar Blumen und auf der Baustelle Bier, und in der Sonntagsmesse legt er einen großen Geldschein in die Opferkasse – oder gleich zwei!«
»Warum lachst du, wenn du mir so ernste Dinge erzählst?«
»Weil bei meinem Vater, kaum denkt er nicht mehr ans Sterben, wieder alles wie vorher weitergeht.«
Dicke Luft am Frühstückstisch
Papa muss den Block mit Verlust verkaufen und die Prozesskosten übernehmen. Er sagt zwar »Schwamm drüber« wie bei allem Unangenehmen neuerdings, nützen tut es aber nichts. Er regt sich mit und ohne Schwamm genau gleich auf. Gestern Abend haben wir ihn am Telefon mit Onkel Heinrich bis in den oberen Stock gehört, so laut ist er geworden. Danach haben sie sogar eine Einladung bei Heidi abgesagt, obwohl die Papa doch immer gut tut. Auch jetzt, beim Frühstück, redet er nur von Onkel Heinrich. Der hat ihm eine Rechnung geschickt, die Papa eine Frechheit findet und nicht akzeptiert. »Nimmt mich wunder, ob andere Anwälte auch so unverschämte Stundenansätze haben! Und erst die Zahl der Stunden! Lächerlich! Dafür gibt der großzügige Herr dann seinem Bruder einen Rabatt …«
»Schpazzji, dü …«
»Aber ich Idiot behandle die ganze Verwandtschaft seit Jahren zu den
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