Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
halbe Heilige sein will, soll sie sich auch wie eine benehmen!«
Papa lächelt über Mamas Übertreibung. »Es hat sich doch abgezeichnet. Sie braucht ihr Umfeld, sie hat sich ja nicht im Geringsten assimiliert. Du kannst nicht von ihr verlangen, dass sie ihre Heimreise dir zuliebe ein weiteres Mal verschiebt.«
»Du bist ja auch nicht im Haushalt tätig!«
»Dafür du!«
Jetzt lachen sie beide.
Kann man wirklich mit Blumen reden?
Seit wir Tosca haben, kommt Kläri oft zum Spazieren mit. Auch andere aus der Klasse schließen sich uns gerne an. Alle schwärmen für unseren Lassie. Dabei ist Tosca überhaupt nicht wie der Filmhund, sie lernt noch weniger schnell als Blitz. »Sitz« und »Platz« bleiben für sie dasselbe – aber immer mit diesem herzerweichenden Hundeblick! Zum Glück springt sie an niemandem hoch, scheu und temperamentlos wie sie ist, würde sie auch nie alleine weglaufen. Am liebsten folgt sie einem auf Schritt und Tritt. Katzen zu jagen käme ihr gar nicht erst in den Sinn, und wenn sie anderen Hunden begegnet, hält sie ihnen das Hinterteil hin oder legt sich gleich auf den Rücken.
Ich gehe mit Tosca an der Drogerie vorbei und direkt hinauf zur Wohnung. Im Türrahmen steht jedoch nicht Klara, sondern Frau Liechti. »Wärst du wohl so gut, mit deinem Hund unten auf dem Hausplatz auf Klärchen zu warten!«
Als Kläri erscheint und fragt, ob auch ich den Frühling spüre, denke ich, die spinnt. Solches Zeug ist doch sonst gar nicht ihre Art.
»Spielst du auf Gerdas Vater an?«
»Gerdas Vater?«
»Ja, der spürt doch den Frühling, den zweiten Frühling nennt man das.«
Jetzt quetscht sie mich aus, dabei weiß ich auch nur dies: »Statt Frühling kannst du auch Verlieben sagen, und Gerdas Vater hat sich eben nochmals verliebt.«
»Richtig verliebt?«
»Frag sie doch selbst.«
Kaum sind wir beim Emmenkanal angelangt, beginnt Klara Blumen zu pflücken. Jede Pflanze kennt sie. Sie wäre für Großmama ein Super-Enkelkind! Würde sie sich bloß nicht immer so als Lehrerin aufspielen.
»Ich merke mir lieber anderes als Pflanzennamen, Tiere interessieren mich mehr … Es muss einfach etwas Lebendiges sein.«
»Meinst du etwa, Pflanzen leben nicht«, fragt sie im Tonfall ihrer Mutter. »Pflanzen spüren genauso viel wie Tiere. Wenn du eine Pflanze gern hast und mit ihr redest, dann wächst sie schneller und …«
»Glaubst du im Ernst, dieses Ankeblümlein hier öffnet sich, wenn ich ihm sage, ich habe dich gern?«
»Natürlich nicht. Aber erstens hat’s geregnet, und zweitens steht es hier erst noch im Schatten. Sobald die Blumen jedoch die Sonne spüren, richten sie sich auf. Du solltest mal unsere Zimmerpflanzen sehen! Ich sag dir, unsere Zuneigung ist wie Sonnenwärme für sie.«
»Weißt du, Klara, du redest gar nicht normal. Du plapperst nur alles deinen Eltern nach.«
Ein paar Sonnentage, und schon gucken alle unsere Blumen im Garten in den Himmel. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie gnadenlos Papa den weißen Margeritenteppich niedermäht. Ich reche das Geschnittene zusammen und überlege mir, ob ich mit dem Gras und den tausend geknickten Blüten Mitleid haben soll.
»Pause«, ruft Papa herüber. Ich hole ihm Mineralwasser und mir ein Glas Sirup. Wir setzen uns auf die schweren Holzstühle neben dem Bassin. Papas Polohemd ist durchgeschwitzt, Mama ermahnt ihn von der Terrasse herab, den Pulli überzuziehen. Ich erzähle Papa von meinem Gespräch mit Klara. Er hört zu, äußert sich aber nicht.
»Sag, Papa, ist das wahr, haben Pflanzen tatsächlich Gefühle?«
»Nun«, antwortet Papa, und ich bin wieder mal verunsichert, ob er’s ernst meint, »wenn das die Drogistentochter behauptet, wird es wohl stimmen. Für mich ist eine welke Rose allerdings nicht traurig, sondern einfach verblüht.«
»Du, Papa, was ist eigentlich der Unterschied zwischen schwermütig und traurig?«
»Schwermütig ist viel mehr als traurig.«
»Doppelt traurig?«
»Das kannst du nicht so sagen. Schwermut ist im Grunde genommen eine Krankheit.«
»Stimmt es, dass Onkel Valentin schwermütig gewesen ist?«
»Er hat aber auch das andere in sich gehabt, das Exzentrische.«
»Was ist das?«
»Ein Exzentriker ist jemand, der ungewöhnlich ist, nicht unbedingt der Norm entspricht.«
»Also abnormal?«
Mich dünkt, Papa ist es recht, dass wir noch ein bisschen schwatzen, er setzt sich bequemer hin und legt nun sogar den rechten Fuß samt seinem dreckigen dicken Gartenschuh auf die Lehne des
Weitere Kostenlose Bücher