Das Leben der Wünsche
abends mit mir weglässt. Aber nicht zu spät!
Jonas drückte die zusammengerafften Hemden und Hosen, für die er sich entschieden hatte, einem Angestellten in die Arme. Er nannte seinen Namen und bat, alles zur Kasse hinaufzuschicken.
Was sagen die Ärzte? Ich weiß nie, wie ich fragen soll.
Da sind wir schon zwei, sagte sie.
Eine dunkelhäutige Kellnerin stellte einen Eisbecher vor ihn hin, der viel größer war, als er ihn sich vorgestellt hatte. Ohne rechten Appetit begann er zu essen. Ein Bettler streckte die schmutzige Hand vor ihm aus. Jonas fischte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie ihm auf dieschmierigen Finger. Er fragte den Mann, ob er sein Eis haben wollte. Barsch winkte dieser ab.
Hatte Anne recht? Beschäftigte ihn das Thema zu sehr? Es stimmte, er dachte an Marie jeden Tag, jede Stunde, er grübelte und erwog, war glücklich und betrübt. Aber daran konnte er aus eigenem Antrieb wenig verändern, zumindest derzeit nicht.
Fasziniert beobachtete er einen dicken Mann, der aussah wie ein japanischer Ringer und der vor sich eine Torte mit einem Berg Sahne darauf hatte. Wie schlecht die Essmanieren des Mannes waren, wie ungeschickt er das Besteck hielt, und wie er schlang! Jonas konnte nicht mehr wegsehen, er musste ihn anstarren, die grobe Bewegung der Gabel zum Mund verfolgen, das hässliche Kauen, das Verziehen der Mundwinkel, den Schaum am Kinn, der den Riesen nicht störte. Schade, dass Jonas den Fotoapparat nicht dabeihatte.
Aus dem Nichts überkam ihn ein Gefühl von Zuwendung und Freundschaft zu diesem Mann. Für eine Sekunde teilte er sein Menschsein mit ihm, konnte er diesen Menschen, der da fraß und kaute und später seinen Darm entleeren würde, lieben. Das Gefühl verebbte, und Jonas war wieder in sich allein.
Nein, er war nicht glücklich. Ja, er wollte Helen nicht verlieren. Ja, er wollte Marie haben, unbedingt. Wo war der Ausweg?
Antworten auf die Fragen des Lebens, die ihn beschäftigten, hatte er immer schon in der Liebe gesucht. In jenem Mit- und Gegeneinander, in dem mal der eine stärker war und mal der andere, in dem wundersame und schreckliche Dinge geschahen und in dem man sich lebendiger fühlte als jemals sonst. Ob es einen Gott gab,hatte ihn weniger beschäftigt als die Frage, ob ihn eine bestimmte Frau liebte und was er für sie empfand, denn die Antwort auf jene Frage konnte für ihn in dieser enthalten sein. Da wollte er hin. Das war Heimat. Das waren die Antworten. Er wusste, er würde von Jesus nicht gerettet werden. Aber vielleicht von einer Frau.
Das Eis ließ er stehen. Der Bettler, verwirrt oder betrunken, verfolgte ihn schimpfend, bis offenbar etwas anderes seinen Zorn auf sich zog und er sich an den nächsten Passanten heftete. Mit seiner Einkaufstüte sprang Jonas im letzten Moment in die U-Bahn, beinahe hätte ihn die ratternd zufallende Tür am Arm erwischt.
Er setzte sich auf den einzigen freien Platz. Die Asiatin neben ihm hielt einen Strauß Blumen, deren plumper Geruch ihm schon nach wenigen Sekunden einen Anflug von Übelkeit bescherte. Er blieb trotzdem sitzen.
Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht war er zu oberflächlich, um die essenziellen Komponenten der Dinge zu erfassen, die über die philosophischen Seiten der Liebe hinausgingen. Aber dann war es eben so. Sein Intellekt bescherte ihm weder Sinn noch Antworten. In der Liebe zu Frauen lag Sinn und lag das Gefühl einer Antwort. An manchen Tagen, in mancher Minute fühlte er eine Antwort. In Marie zu sein war eine Antwort. In einer Frau, in die er verliebt war, hörte er leise das Universum. In einer Kirche nicht.
10
Auf dem Flur lief ihm Werner über den Weg, der eine lederne Motorradhose trug und die Kapuze seines schwarzen Pullovers über den Kopf gezogen hatte. Er blieb stehen, als hätte er etwas auf dem Herzen, entschied sich dann aber offenbar anders. Seine Augen funkelten aus der Pulloverhöhle. Er roch intensiv nach Rum.
Was ist los? Bist du wieder mit neuen Angeboten überfordert?
Du kennst doch Evie. Mit der bin ich derzeit überfordert.
Kennen ist zu viel gesagt. Ich habe sie zweimal gesehen.
Das reicht, da sollte dir aufgefallen sein, dass sie manchmal schwierig ist.
Unverständlich. Wo sie es mit dir doch so leicht hat!
Werner zögerte, er schien etwas sagen zu wollen. Schließlich zuckte er die Schultern und schob einen Plakatentwurf in den Kopierer.
Jonas knipste das Blaulicht auf dem Monitor an. Der Prospekt für die Autowäscherei war nun
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