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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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über den Kopf, der ebenfalls zu weinen begonnen hatte. Er erklärte ihnen, dass er nicht wegen ihnen böse war, sondern wegen des Verkehrs, und entschuldigte sich.
    Das darfst du gar nie wieder machen! rief Tom.
    Ich mache das bestimmt nie wieder! Und wenn ich esdoch mache, dürft ihr mich kitzeln! Bis ich grün bin im Gesicht!
    Aber nicht einmal morgen darfst du das wieder machen! rief Chris.
    Du darfst es nie mehr machen! schrie Tom.
    Er versprach es. Als er endlich weiterfahren konnte, versprach er ihnen zehntausend Luftballons und alle Zuckerwatte der Welt. Eine Stunde später als gewöhnlich lieferte er sie im Kindergarten ab. Die Erzieherinnen setzten griesgrämige Mienen auf, sagten jedoch nichts.
    Tut mir leid wegen gestern. Dachte noch lange nach, ob ich einen fehler gemacht hatte. Ich glaube, ich hätte kommen sollen. Manchmal bin ich eben nicht flexibel genug.
    Siehst du eine Chance, dass wir uns diese Woche noch sehen?
    Ich denke nach! Und zwar angestrengt.
    Als er von der Haupteinfahrtsstraße in die Stadt abfuhr, wurde der Verkehr etwas flüssiger. Er gab Gas, überholte einmal trotz Verbots eine Straßenbahn. Er musste hart bremsen, weil er einen Zebrastreifen übersehen hatte. Ein alter Mann drohte mit einer Krücke. Jonas winkte ab und schaute in eine andere Richtung.
    An der nächsten Kreuzung überquerte ein swingender Fußgänger mit Rastalocken die Straße betont langsam. Jonas hielt es nicht mehr aus, er hupte. Der junge Mann drehte sich zu ihm um, blieb stehen und grinste ihn höhnisch an. Mit kleinsten Trippelschritten rückwärts setzte er seinen Weg fort. Jonas wollte schon ein Schimpfwort hinausrufen, beherrschte sich dann aber doch. Kopfschüttelnd verfolgte er den gemächlichen Spaziergang des Mannes mit dem iPod.
    Der Lastwagen kam aus dem Nichts. Er rammte den Fußgänger und schleuderte ihn durch die Luft.
    Als Jonas den Motor abstellte, zitterten seine Hände, und ihm war eiskalt. Was mache ich, Warndreieck aufstellen, Notarzt rufen, hinlaufen? Erstversorgung, ich erinnere mich an nichts, dieser Idiot, was für ein Idiot!
    Hinter Jonas waren andere Fahrer bereits ausgestiegen. Der Verunglückte lag dreißig Meter weiter. Ein Mann kniete bei ihm, zwei Frauen standen daneben. Auch der Gegenverkehr stockte. Den Fahrer des Lastwagens sah Jonas nicht aussteigen. Irgendwo schrie eine Frau hysterisch. Ein Kind hatte offenbar vor Schreck seine Eistüte fallen gelassen und weinte. Zum Glück hatten Tom und Chris den Unfall nicht mit ansehen müssen.
    Jonas wählte den Notruf. Sofort meldete sich eine Stimme, von der er nicht einmal hätte sagen können, ob sie männlich oder weiblich war. Er gab den Unfall durch und erfuhr, dass er als Erster angerufen hatte.
    Er atmete tief, um zu sich zu kommen. Seine Beine waren schwach. Seine Hände zitterten noch immer. Es war der erste schwere Unfall, den er in seinem Leben gesehen hatte.
    Da sich Passanten um den Verunglückten kümmerten, blieb er in einiger Entfernung stehen und tauschte sich mit Wildfremden aus. Mehrmals schilderte er, was passiert war, obwohl ihm kaum jemand zuhörte, die meisten wollten nur loswerden, was sie selbst gesehen hatten.
    Plötzlich war der Lastwagen da, sagte eine dicke alte Frau. Zack!
    Dem Typen geschieht ganz recht, sagte ein junges Mädchen. Wenn er so über die Straße schleicht. Soll er mal besser nach links und rechts schauen!
    Wie der geflogen ist, sagte ein Mann, Jesus, so etwas habe ich noch nie gesehen!
    Viel wilder als im Film! pflichtete ihm ein Junge bei.
    Mit heulender Sirene kam der Rettungswagen an, und Menschen in roten Jacken sprangen heraus. Mehr sah Jonas nicht, weil die Polizei die Unfallstelle mit rot und weiß gestreiften Plastikbändern absperrte und die Autos aus dem Weg haben wollte. Die Polizisten gingen von Fahrer zu Fahrer und fragten, ob einer etwas gesehen hatte.
    Tut mir leid, sagte Jonas, nichts habe ich gesehen.
    Sie müssen doch, Sie sind der Erste hier!
    Ich hatte auf den Verkehrsfunk geachtet und nach unten geschaut.
    Und wo ist der Lastwagen hin?
    Jonas drehte sich um. An der Stelle, an der er den Lastwagen zuletzt gesehen hatte, stand ein Polizeiauto.
    Offenbar abgehauen, sagte Jonas bestürzt.
    Wir haben eine Fahrerflucht, sagte der Polizist in sein Funkgerät.
     
    Gern hätte Jonas mit jemandem im Büro über den Unfall gesprochen, aber solche Kleinigkeiten interessierten hier niemanden. So suchte er den ganzen Vormittag lang auf den News-Seiten nach Berichten darüber, die

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