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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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in den Schrank. Der Programmierer holt sich den Film einer Jüdin, die 1943 in Theresienstadt umkommt. Nach alldem etwas Heiteres. Er sieht sich den Lebensfilm eines Baseballstars an, dann den von Heinrich Schliemann, danach den eines römischen Imperators. Vielleicht sieht er sie sich nicht allein an, vielleicht gibt es Kinos? Er sieht sich gern die Filme von Jesus und Vincent vanGogh und Thomas Edison an und die großer Liebender, aber auch die anderen, die kleinen, den von Elvis Presleys Fahrer und den der Nachbarin des Fahrers, er sieht sie sich alle an. Natürlich sieht er sie sich nicht an, wie wir uns das vorstellen, mit einem Projektor oder auf DVD, sondern erlebt sie, und auf diese Weise werden sie ein Teil von ihm. Vermutlich sieht er sich noch ganz andere Sachen an, die wir uns nicht vorstellen können.
    Klingt, als wäre Gott uns doch sehr ähnlich, sagte Nina.
    Er trank noch ein Glas, er hatte schrecklichen Durst. Er schenkte Nina nach, dann sich selbst.
    Glaubst du wirklich, dass wir in einer Computersimulation leben? fragte sie.
    Na ja, du vielleicht nicht, aber ich bestimmt.
    Ein großer Nachtfalter flog in die Drähte und ging zischend in Flammen auf. Es roch verbrannt. Jonas nahm die Gläser und setzte sich an einen weit entfernten Tisch, Nina folgte mit den Jacken und ihrem Block. Der Kellner brachte die Karaffe und zündete, eine Entschuldigung murmelnd, die Tischkerze an.
    Weltausschaltcode, sagte Jonas.
    Wie?
    Vielleicht gibt es ein Kürzel am Computer, das die ganze Welt ausschaltet. Es wird einfach finster, alles hört auf, wenn eines Tages jemand Strg+234535fghtehj*§$&/! eingibt. Kleiner Scherz des Programmierers? Kommt ja niemand drauf.
    Sie schrieb.
    Weißt du, warum ich Silvester mag? fragte er. Weil sich jeder erinnern kann, wo er war. Wo warst du letztes Silvester?
    Bei Phil, wegen der Dachterrasse, wo sonst? Um Mitternachthabe ich mir gewünscht, im kommenden Jahr Isländisch zu lernen. Es gab belegte Brote und Sekt, und alle trugen Kleidung aus den 1920er-Jahren.
    Siehst du, das meine ich. Auch ich weiß genau, was ich in dieser Zeit gemacht habe. Jeder weiß, wo er war, und jeder weiß, was er speziell um Mitternacht gedacht, gesagt und getan hat, allerdings nur innerhalb derselben Zeitzone. Und da sehe ich das Problem.
    Das Problem?
    Nicht Problem, ich finde es schade. Schade, dass nicht die ganze Welt, alle sechs oder sieben Milliarden Menschen, eine Sekunde zugleich bewusst erleben kann. Sagen wir, jedes Jahr am neunten April um zwölf Uhr mittags mitteleuropäischer Zeit besinnen sich alle auf das, was sie gerade tun, verbringen diese Sekunde ohne Ablenkung, denken sich: Das ist hier und jetzt. So ist es, so wird es gewesen sein.
    Die Karaffe war leer. Der Kellner kam, und Jonas sah Nina fragend an. Sie nickte. Er bestellte noch zwei Gläser.
    Eine Frage habe ich noch, sagte sie. Gehören Sex und Liebe zusammen? Was ist das Verhältnis von Sex und Liebe, wenn möglich in einem Satz zusammengefasst?
    Kann ich nicht sagen. Das ist für jeden anders.
    Stimmt wohl, sagte sie. Wir könnten immerhin versuchen herauszufinden, wie es für dich ist und wie für mich.
    Einige Sekunden dauerte es, bis der Sinn dieses Satzes zu ihm durchdrang, und er ging einher mit einer Welle von Hitze und Erregung, die durch ihn flutete. Er rieb sich das Gesicht, als sei er müde, damit sie sein starres Lächeln nicht bemerkte. Er streckte sich, er tat sogar, als grüße er auf der anderen Straßenseite einen Bekannten.
    Könnten wir das? fragte er.
    Ja, das könnten wir, sagte sie.
    Ungezwungen holte er sein Mobiltelefon heraus. Keine Nachrichten, auch kein Anruf von Lea aus den Bergen. Er dachte an Marie. An Helen. Die beiden, die gegangen waren. Am Nebentisch lachte eine Frau auf. Jonas sah ihre Brille, ihre Ohrringe, ihr Kleid, ihr Gesicht, und obwohl sie schön war und offensichtlich gerade Freude erlebte, tat sie ihm leid, weil sie nicht empfand, was er empfand, weil sie ihr Leben leben musste und nicht seines, das trotz seiner Tragik so prall und voll und aufgeladen war.
    Und wann könnten wir das? fragte er.
    Wie wäre es mit heute?
    Heute?
    Ja, heute.
    Ist mir recht, sagte er.

25
    Bevor er ins Büro fuhr, hielt er am Zeitschriftenladen. Die Verkäuferin winkte ihm, und er sah, dass ihre Finger sauber waren. Er nickte ihr zu. Er nahm keine Tageszeitung, nur Monatsmagazine.
    Auf dem Weg zur Kasse bemerkte er, dass sich alle außer ihm kaum bewegten. Er blieb stehen und achtete darauf. Es war, als

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