Das Leben der Wünsche
seien die Glieder aller anderen im Geschäft bleischwer. Die Kunden standen mit zitternden Zeitungen da, die Verkäuferin starrte auf die Kasse und strich über die Tastatur.
Er hörte ein Räuspern. Etwas knarrte. Der alte Mann aus dem Hinterzimmer kam auf Jonas zu. Während die Verkäuferin und die Kunden teilnahmslos um sie herumstanden, streckte ihm der Alte die Hand entgegen. Zögernd ergriff Jonas sie. Der Alte schüttelte ihm fest die Hand. Jonas sah seine blauen Augen, die ihn fixierten.
Der Pfeifengreis ging wieder nach hinten. Die Geräusche kehrten zurück, die Verkäuferin tippte etwas in die Kasse, einem Kunden fiel die Brille hinunter. Jonas bezahlte.
26
Seit dem Begräbnis war er dreimal hier gewesen, jedes Mal hatte er sich verlaufen, und diesmal ging er auch schon zum dritten Mal an derselben Kreuzung vorbei. Aus einem unbestimmten Grund, vielleicht war es ihm unbewusst angebracht erschienen, hatte er ein schwarzes Hemd angezogen, worüber er sich nun ärgerte, weil ihm der Schweiß über den Rücken lief. An einem Brunnen, an dem alte Leute Wasser für ihre Gießkannen schöpften, stellte er sich in den Schatten und versuchte sich zu orientieren. Letztlich blieb ihm nichts übrig, als einen der graugesichtigen Gärtner zu fragen, der ihn in die richtige Richtung wies, ohne ihn anzusehen.
Vor Helens Grab stellte er seinen Rucksack auf den Boden. Den Blick auf den Gedenkstein mit ihrem Foto gerichtet, raunte er einen Gruß. Er legte die Blumen auf den aufgeschütteten Erdhaufen, eine Geste, die ihm im selben Moment leer erschien.
Er sah sich um. Niemand in der Nähe. In einiger Entfernung wanderten weißhaarige Gestalten eckig umher.
Hallo, sagte er wieder und hockte sich hin.
Er ließ Kies durch die Finger rieseln. Seine Hand wurde staubig, er wischte sie an der Hose ab. Aus dem Rucksack zog er eine halb volle Flasche Wein und trank. Irgendwo schien jemand mit einem schweren Gartenwerkzeug auf Metall zu schlagen, die Töne flogen geschäftig über das Friedhofsareal.
Was er hier machte, wusste er nicht recht. Er war bedrückt wie immer auf Friedhöfen, ohne dass sich das erleichternde Gefühl hinzugesellt hätte, etwas Gutes und Richtiges zu tun. Eine Amsel flog über ihn hinweg, aus einem Baum erklang helles Tschilpen. Jonas wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Seine Schenkel begannen zu spannen, und er setzte sich kurzweg auf den Boden, obwohl er nun aussehen musste wie ein Weinbruder.
Mit wem rede ich eigentlich? Mit dir? Aber du bist nicht da. Fühle ich mich dir hier näher? Kann ich auch nicht behaupten, sonst wäre ich vielleicht öfter hier. Fühle ich mich meinen Gefühlen näher? Ja, aber angenehm ist das nicht.
Kim fiel ihm ein, der ebenfalls hier irgendwo begraben lag. Jonas unterdrückte ein bitteres Lachen, das ihm peinlich war.
Na, seid ihr nun vereint?
Kurioserweise fühlte er etwas wie Eifersucht, eine stärkere Eifersucht, als er gegenüber dem lebendigen Liebhaber seiner Frau gefühlt hatte.
Eine alte Frau ging schwerfällig vorbei, einen Bund Schnittblumen in der Hand. Er konnte sich nicht beherrschen, er zog schnell den Fotoapparat heraus und fotografierte sie von hinten. Es war ein ausdrucksstarkes Bild: die Gräber mit den Blumen und den ewigen Lichtern, die Grabsteine, die Bäume im Hintergrund, ein Brunnen. Die alte Frau im dunklen Rock, die gebeugt einen Strauß Blumen trug.
Lange sah er ihr nach. Wie es wohl war, wenn Menschen, die man geliebt, mit denen man einst geschlafen hatte, schon vor langer Zeit gestorben waren, und zwar an Altersschwäche?
Sich möglichst im Schatten haltend, streifte er umher. Er las die Inschriften auf den Grabsteinen, betrachtete vergilbte Fotos neben Namen von Verstorbenen. Diese Bilder zeigten Menschen, die ehemals gelebt hatten, die zwar vor fünfzig Jahren gestorben waren, doch einst diese Baumrinde, diesen Stein so wirklich und gegenwärtig empfunden hatten wie er in diesem Moment. Diese Augen, diese Nasen, diese Münder, all das hatte es einst wirklich gegeben, durch sie hatten sich Blutgefäße gezogen, im Blut war Leben gewesen. Und heute waren schon die Enkel dieser Menschen tot.
Je länger er umherging, desto mehr frische Kreuze entdeckte er, und sie ragten keineswegs nur aus den Gräbern alt gestorbener Menschen. Ihm fiel der Landfriedhof ein, auf dem er beim Begräbnis des greisen Gründers von Drei Schwestern gewesen war. Nie zuvor hatte er eine Begräbnisstätte mit so vielen Gräbern jung Verstorbener
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