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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Atemgeräusche kamen aus fremdartigen medizinischen Apparaten.
    Hallo?
    Der oder die Kranke lag tief unter Decken vergraben. Ein blutiger Harnsack hing neben dem Bett. Schläuche ragten aus Maschinen und endeten irgendwo unter der Decke. Vom Patienten selbst war nichts zu sehen, kein Haarschopf, kein Finger, nichts.
    Hallo?
    Jonas wäre gern näher getreten, hätte zumindest gern das Krankenblatt gelesen, doch etwas hielt ihn ab. Er wandte sich um. Die Tür stand halb offen.
    Hallo?

24
    Als Jonas von einer Partie Dart mit dem taubstummen Barbesitzer zurück nach draußen kam, hatte Nina fertig telefoniert und einen Schreibblock vor sich liegen. Er blieb hinter ihr stehen. Ihr Kleid war hochgerutscht, und ehe er sich bemerkbar machte, betrachtete er ein paar Sekunden lang ungeniert ihre nackten Schenkel. Es war das gelbe Kleid, das sie abends schon zweimal angehabt hatte, mit breiten Trägern und tiefem Ausschnitt, dazu trug sie gelbe flache Schuhe.
    Schreibst du hier Tagebuch?
    Nein, sagte sie, ich habe ein paar Fragen an dich. Kann es losgehen?
    Hast du eine Liste gemacht?
    Ganz recht, und ich möchte sie abarbeiten. Bereit?
    Mir wäre es lieber, wir sitzen hier weiter nett, trinken etwas und unterhalten uns. Über deinen Familienstammbaum. Über die Agentur. Was weiß ich.
    Darüber reden wir noch. Jetzt sitzen wir nett, trinken etwas, ich frage dich, und du antwortest!
    Das ist keine Unterhaltung, sagte er, sondern ein Interview.
    Können wir?
    Er hob kurz die Hand, eine Geste, die weder Zustimmung noch Ablehnung ausdrückte. Auf der Straße fuhren junge Leute grölend in einer Rikscha vorbei, einer spie Bierfontänen auf die parkenden Autos, sodass die Fußgängerin der Nähe in Deckung gingen. An den Stromdrähten der Blaulichtlampe über dem Eingang zur Bar, wo die Raucher standen, verendeten knisternd Moskitos und andere Insekten.
    Wieso ist uns egal, was in Afrika passiert? fragte Nina.
    Weil die Menschen dort schwarz sind.
    So einfach ist das?
    So einfach ist das.
    Er sah zu, wie sie seine Antwort notierte. Gegen seinen Willen schmeichelte ihm ihr ernster Eifer.
    Glaubst du an Vorbestimmung? fragte sie.
    Nein, sagte er. Ich glaube daran, dass nichts vorbestimmt ist und dass sich jeder Mensch bewusst entscheiden muss, ob er für das Gute oder besser: im Guten leben will oder nicht.
    Warte mal, nicht so schnell!
    Wozu schreibst du das denn auf?
    Sie gab keine Antwort. Den Kopf über den Notizblock gebeugt, schrieb sie fertig.
    Wieso kriegt der eine AIDS, der andere nicht? Wieso wird die eine reich und ihre Freundin todkrank? Wieso Unfälle? Wieso Glück?
    Du lieber Himmel, woher soll denn ich das wissen?
    Was glaubst du?
    Keine Ahnung!
    Aber was glaubst du?
    Wieso glaubst du, dass ich dazu eine Meinung habe? Was soll ich wissen? Ich weiß gar nichts. Die meisten Fragen sind mir gleichgültig, entweder weil ich ihnen traurigerweise geistig nicht gewachsen bin, oder weil mir ihre Beantwortung keinen Nutzen bringen würde. Moment, ich passe.
    Drinnen war es heiß, die Luft feucht von Bier, Schweiß, Hitze. Auf der Toilette machte ein Betrunkener merkwürdige Gesten. Nach einer Weile dämmerte es Jonas, dass dem Mann seine Zigaretten in die Rinne gefallen waren, dass er eine von Jonas wollte und dass er zudem stumm war wie der Wirt, also wahrscheinlich einer seiner Freunde. Jonas kaufte ihm am Automaten eine ganze Schachtel. Der Betrunkene wollte sich bedanken, und bevor Jonas sichs versah, saß er schon auf einem Barhocker, eingekeilt zwischen zwei wüsten stummen Zechern, die ihm mit ungestümer Gestik und schauerlichem Gelalle offenbar ihre Dankbarkeit bekunden wollten. Der Besitzer befreite ihn, doch nur, um auf die Scheibe an der Wand zu zeigen, also eine neue Partie Dart vorzuschlagen. Jonas schüttelte den Kopf, vor Hitze klebte ihm das T-Shirt auf der Haut, er ging zur Tür. Der Wirt machte ein langes Gesicht.
    Das da drinnen ist ein Taubstummentreffpunkt oder so was, sagte Jonas, als er sich setzte.
    Glück oder Unglück? fragte Nina. Warum?
    Also gut, sagte Jonas. Diese Welt ist absurd. Ganz ohne eine mir ersichtliche Ordnung, und doch gibt es wohl eine. Also würde es mich nicht verwundern, wenn es grotesk banale Dinge wären, die beeinflussen, ob ein Leben gut oder schlecht verläuft. Etwas, worauf wir nie kommen würden. Vielleicht hat da jemand Humor? Und wir erfahren im Jenseits zum Beispiel: Beten hilft nichts. Ein Leben im Guten hilft nichts. Aber: Farben sind das Wichtigste. Wer immer helle

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