Das Leben der Wünsche
den Rücken und blickte in den allmählich aufklarenden Himmel. Hielt nach einem Satelliten Ausschau, aber sie versteckten sich. Er zog sein T-Shirt aus und säuberte damit im Schein einer Laterne notdürftig seine Wunden. Abermals begegnete ihm ein Paar, das bei seinem Anblick die Straßenseite wechselte und verbissen schweigend weiterging. Als sich Jonas ein Taxi rufen wollte, griff er in leere Taschen, er hatte das Handy schon wieder verloren.
Er humpelte in jene Richtung, in der er eine Hauptstraße vermutete. Er kam an verlassenen Taxiständen vorbei, an geschlossenen Kneipen, unbeleuchteten Polizeistationen. Wenn er in diesem Tempo weiterging, war er in einer Stunde noch nicht zu Hause. Gern hätte er irgendwo geläutet und gebeten, man möge ihm ein Taxi rufen, doch er wagte es nicht, er wartete lieber, bis er auf Nachtschwärmer stieß.
Eine Viertelstunde war er gegangen, da entdeckte er auf der anderen Seite ein beleuchtetes Schild, das den Eingang eines Krankenhauses anzeigte und das ihm nie aufgefallen war, weder das Schild noch das Krankenhaus. Als er die Straße überquerte, trat er in einen Hundehaufen. Fluchend rieb er die Schuhe im Gras ab. Drei Schritte weiter trat er in eine Pfütze zerronnenes Tüteneis. Er musste wieder lachen.
An der Zufahrt parkten mehrere Krankenwagen, neben deren Fahrertüren haufenweise Zigarettenkippen lagen.Vor dem Haupteingang des Spitals quoll ein Stehaschenbecher über. Die Portierloge war nicht besetzt. Die automatische Tür glitt summend zur Seite.
Hallo? Hallo?
Er drückte die Nachtglocke. Nichts rührte sich. Niemand kam.
Hallo? Bedienung?
Er folgte den Schildern zur Ambulanz. Davor fand er eine Warteecke mit mehreren Stuhlreihen, die allesamt unbesetzt waren. Er klopfte und trat ein. In der Ambulanz war niemand. Er ging wieder hinaus auf den Gang und drückte einen Rufknopf, wofür immer dieser auch da war und wen er zu rufen versprach. Er knallte einen Fußball, der zwischen Puzzles und Zeichenheften in einem Regal lag, einige Male möglichst lautstark quer durch den Gang. Als auch das nicht half, schrie er, so laut er konnte. Seine Stimme verhallte.
Er klopfte an die Tür zum Schwesternzimmer. Der Spalt am Boden war dunkel. Er drückte die Klinke. Abgesperrt. Er humpelte von Tür zu Tür. Mancherorts brannte Licht, doch auf Menschen stieß er nicht.
Mit dem Lift fuhr er in den ersten Stock. Am Getränkeautomaten kaufte er eine Dose Cola, die er in einem Zug leer trank. Er durchsuchte Patientenzimmer. Die Betten waren unberührt oder gar nicht bezogen. Obwohl Licht brannte, obwohl Tabletts mit Medikamenten herumstanden und es den Anschein hatte, als würden hier durchaus Kranke gepflegt.
Im zweiten und im dritten Stock war die Sicherheitstür, die zu den Zimmern führte, abgesperrt. Er hörte jemanden lachen, dann klirrten Gläser. Er drückte wieder einen Rufknopf. Niemand kam.
Im vierten Stock war der OP. Darin sah es aus, als hätte vor Kurzem eine Operation stattgefunden. Überall lagen blutige Tücher und Operationsbesteck. In den offenen Mülleimern sah er Handschuhe, Gesichtsmasken und besudelte Hemden. Es roch scharf nach Desinfektionsmittel. Er fand eine Flasche Jod, mit der er sich verarztete.
Einen provisorischen Verband unbeholfen um Knie und Schienbein gewickelt, fuhr er hoch ins fünfte Stockwerk. Die Rollläden der Cafeteria waren heruntergezogen. Leise summte auch hier ein Getränkeautomat. An den Wänden Kinderzeichnungen: eine Sonne mit Ohren, ein Stück Käse, dessen Löcher fröhliche Gesichter waren, ein Staubsauger, ein die Sense schwingender Bauer, eine Bratwurst, aus der geschossen wurde. Die Zimmer waren teils erleuchtet, teils dunkel, die einen standen offen, andere waren geschlossen oder sogar zugesperrt.
In einem Zimmer schaltete er das Radio an. Er legte sich in ein frisch bezogenes Bett, drückte den Rufknopf für die Schwester und wartete. Um drei Uhr kamen Nachrichten. Er hörte sie sich an, dann verließ er auf klebrig quietschenden Sohlen das Zimmer, ohne das Radio auszumachen. Auf dem Flur hörte er das Geräusch eines losfahrenden Autos, er sprang zum Fenster und sah einen Rettungswagen von der Rampe fahren und mit hohem Tempo in der Nacht verschwinden.
Am Ende des Gangs, neben den Toiletten, lag das letzte Zimmer. Nur das Licht am Waschbecken brannte. Sieben Betten waren leer, im achten lag jemand.
Jonas ging auf das Bett zu. Ringsum waren Monitore aufgebaut, schwach tönte ein regelmäßiges Piepen. Künstliche
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