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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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gehüllt war und wie eine Mumie wirkte. Sie saß an Kissen gelehnt auf einer Couch.
    Diese Frau war so reich gewesen, dass sie einen berühmten Maler dafür bezahlt hatte, sie zu porträtieren, erzählte Val. Nach ihrem Tod wandelte man die Villa der Frau in das Museum um, in dem Val an diesem Tag in Boston gewesen war.
    Als ich sie fragte, wie es dort gewesen war, trat ein unsicherer Ausdruck auf ihr Gesicht, als sei diese Frage zu schwierig, um sie zu beantworten.
    »Es war zu voll«, sagte sie dann. »Ich bin gegangen.«

Ruth
    Wie Vögel
    I rgendwann um die Zeit, als ich in die Junior Highschool kam und mein Vater und ich diese eigenartige Begegnung mit Val im Isabella Stewart Gardner Museum hatten, endete die Tradition unserer alljährlichen Frühjahrsreise zu Dickersons. Das nächste Mal sah ich die Familie an unserem Verkaufsstand während der Erdbeersaison, in dem Sommer, in dem ich dreizehn wurde.
    Das Wochenende des Nationalfeiertags stand bevor, und das waren unsere betriebsamsten Tage bis zum Labor-Day-Wochenende. Ich kam gerade vom Feld zurück, mit vollen Erdbeerkörben, als ich meinen Vater hinter der Scheune mit jemandem reden sah. Dass er irgendwo stillstand, war ungewöhnlich. Noch bevor ich sah, mit wem er sprach, schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf – wie erstaunlich es war, dass er sich jetzt, da wir am meisten Arbeit hatten, vom Wässern und Düngen der Erdbeeren abhalten ließ.
    Er sprach mit Val Dickerson. Sie trug ein sehr hübsches Sommerkleid – ärmellos, mit schmaler Taille und weitem Rock und Spitzen an den Taschen. Ihr Haar fiel offen über ihre Schultern, und sie erinnerte mich an Mary von Peter, Paul and Mary.
    Offenbar regte Mrs Dickerson sich über irgendetwas auf. Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, während mein Vater – der wie immer Arbeitsstiefel und Latzhose trug und einen Sack Dünger im Arm hielt, den er wohl auf den Pick-up laden wollte – einfach nur dastand.
    Val war nicht so zurechtgemacht wie bei unserer Begegnung im Museum, aber sie sah wunderschön aus. Als mir das auffiel, hatte ich zu meinem eigenen Erstaunen das Gefühl, meine Mutter beschützen zu müssen. Sie war vermutlich etwa im selben Alter wie Val, hatte aber in den letzten Jahren sehr zugenommen, und ihr Gesicht, das früher so straff und kräftig gewesen war wie ihr Körper, wirkte nun aufgequollen und schlaff. Von diesem einen Experiment mit der Haarfarbe abgesehen – das zweifellos ein Fehler gewesen war –, hatte meine Mutter nichts unternommen, um die Anzeichen des Alters zu verbergen. In der Kirche brachte man uns bei, dass man dem Leib keine Bedeutung beimessen sollte und dass Eitelkeit eine Sünde sei. Dennoch dachte ich, es würde meine Mutter vielleicht traurig machen, dass Mrs Dickerson noch so jung und schön aussah.
    Ich ging nicht zu Mrs Dickerson, um sie zu begrüßen, und Dana war nirgendwo zu sehen; vermutlich hielt sie sich am Verkaufsstand auf, doch ich legte sowieso keinen Wert darauf, mit ihr zu reden. Aber ich steuerte auf ihren Bruder zu, der am Rand des Parkplatzes mit drei verschiedenen Arten von Sommerkürbissen jonglierte.
    Normalerweise hätte ich es nicht gewagt, mit einem Jungen zu sprechen, der so viel älter war als ich – Ray war inzwischen siebzehn –, aber er hatte mir zugewinkt. Wie immer spürte ich bei seinem Anblick ein wohlig-warmes Gefühl in mir, eine angenehme Form von Aufregung.
    »Meine Mutter«, sagte er, »schafft es tatsächlich, einen Umweg von einer Dreiviertelstunde zu fahren, um Erdbeeren zu kaufen. Sie behauptet, eure seien die besten.«
    »Ich dachte, ihr wohnt in Maine«, sagte ich.
    »Haben wir auch. Aber meine Eltern wollen jetzt wieder nach Vermont ziehen. Zuerst wollte George da oben Muscheln verkaufen und dann gesunde Gemüsesäfte, aber beides hat nicht hingehauen. Jetzt ist er wegen irgendwelcher Geschäfte oben in Burlington.«
    »Machst du dieses Jahr deinen Schulabschluss?«
    »Ein Jahr noch«, antwortete er. »Sobald ich mit der Schule fertig bin, geh ich nach Kalifornien. Dahin, wo was los ist.«
    Ich hatte davon gehört. San Francisco. Eine Jugendbewegung, und der Pfarrer hatte gesagt, wir müssten beten, um der Versuchung von Sex und Drogen zu widerstehen, die von einem Ort namens Haight-Ashbury ausging. Dass Ray Dickerson dort leben wollte, beeindruckte mich enorm.
    »Du bist gewachsen«, sagte er. Ray selbst war inzwischen über eins achtzig groß, und er strahlte eine wilde Anmut aus, während er mit den

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