Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Edwin, für seine Brüder Ed.
»Sie kann von Glück sagen, dass sie nicht die Visage von ihrem alten Herrn geerbt hat«, erwiderte er. »Das ist grade mal so gut gegangen.«
»Was für ein Zufall, dass ihr am selben Tag hier seid wie ich«, sagte Val. Wobei die Tatsache, dass wir uns überhaupt an diesem Ort aufhielten, natürlich noch erstaunlicher war. Und dass mein Vater, ein Mann, der in seinem ganzen Leben noch nie ein Kunstmuseum betreten hatte, mich an genau demselben Tag hierherbrachte, an dem Val Dickerson – die damals irgendwo in Maine lebte – im selben Moment auf derselben Marmortreppe auftauchte.
»Was meinst du, wollen wir einen Kaffee trinken, Val?«, schlug mein Vater vor. »Neuigkeiten austauschen?«
Seine Stimme hörte sich fremd und ungewohnt an. Mein Vater war meistens ruhig und zurückhaltend, aber jetzt klang er irgendwie aufgeregt, und seine Stimme war höher als sonst. Er schien das auch gemerkt zu haben, denn er räusperte sich.
»Wir sind doch grade erst angekommen«, sagte ich. »Ich will die Gemälde sehen.«
»Natürlich«, sagte Val. Sie schien sich gefasst zu haben, obwohl ihre Augen immer noch feucht schimmerten, als könne sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Ruth liebt Kunst«, erwiderte mein Vater. »Du solltest mal die Bilder sehen, die sie von der Schule heimbringt. Sie hat so ein Talent wie du.«
»Ich würde deine Arbeiten gerne mal sehen«, sagte Val. Niemand hatte meine Zeichnungen je als »Arbeiten« bezeichnet. Für meine Mutter waren sie einfach Bilder.
»Ist wohl eine ganze Weile her, seit du mein Mädchen zum letzten Mal gesehen hast«, bemerkte mein Vater. »Sie ist ganz schön in die Höhe geschossen seit dem letzten Treffen. Muss an dem ganzen guten Gemüse liegen.«
Val betrachtete jetzt auch das Gesicht meines Vaters eingehend. Sie war einen Schritt zurückgetreten wie jemand, der einen Elektrozaun angefasst hat. »Das ist wirklich eine Überraschung, Edwin«, meinte sie dann. (Edwin, nicht Eddie.) »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Vielleicht sollten wir uns das Museum zusammen anschauen«, schlug mein Vater vor. »Du könntest uns doch bestimmt alles über die Maler erzählen, Valerie. Ich kenn mich ja nicht aus mit diesen Sachen.«
Dann standen die beiden einen Moment lang nur da. Mein Vater schaute Val Dickerson mit einem Blick an, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte – schon gar nicht meiner Mutter gegenüber –, und mir kam der Gedanke, dass er vielleicht in Val verliebt war. Val dagegen sah mich an. Dann schienen sich beide zur Ordnung zu rufen, und Val wandte sich wieder meinem Vater zu.
»Isabella Stewart Gardner war eine wilde Frau«, sagte sie. »Sie hat gegen die Regeln gelebt, war ihrer Zeit voraus. Das hier war ihr Haus, wisst ihr.«
Ich lief jetzt voraus, weil ich am Ende des Gangs einen Raum mit goldenen Möbeln, einer Samtcouch und Engelsbildern an der Decke entdeckt hatte, den ich unbedingt genauer anschauen wollte. Obwohl ich vielleicht auch einfach nicht miterleben wollte, was diese beiden sich noch zu sagen hatten. Stattdessen sah ich mir ein Gemälde von einer Frau in einem altertümlichen Kleid an, das von einem Künstler namens John Singer Sargent geschaffen worden war. Das war interessant und nicht bedrohlich für mich.
Kurz darauf trat mein Vater zu mir.
»Was ist mit Mrs Dickerson?«, fragte ich.
»Ihr ist was dazwischengekommen«, antwortete er. Seine Stimme klang wieder einigermaßen normal. »Sie musste los. Wird wohl doch nichts aus dem Kaffee. Aber wenn wir uns alles angeschaut haben, kaufe ich dir am Getränkestand eine Schokolade.«
So wenig kannte mein Vater sich in Museen aus. Er glaubte, hier gäbe es Getränkestände.
Wir blieben nicht allzu lange in dem Museum. Mein Vater nahm offenbar an, es sei ausreichend, in einem Museum durch die Räume zu wandern und nur lange genug stehen zu bleiben, um die Messingschilder neben den Kunstwerken mit den Lebensdaten der Künstler zu lesen – oder auch der Künstlerinnen. Denn mir gefielen die Bilder einer Malerin namens Mary Cassatt am besten.
Mein Vater strahlte noch immer die eigenartige Unruhe aus, die ihn seit der Begegnung mit Val Dickerson erfasst hatte. Er wirkte besorgt und zerstreut, und deshalb widersprach ich auch nicht, als er schließlich sagte: »Wollen wir hier Schluss machen? Ich hab einen Stall voller Kühe daheim, die auf mich warten und nicht wissen, dass Weihnachtsferien sind.«
Auf der Heimfahrt redete mein Vater kaum, aber
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