Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
geschenkt und sie ihm dasselbe – brachten wir meine Mutter und meine Schwestern zum Bus nach Boston. Meine Mutter trug ein Kostüm, meine Schwestern hatten ihre Kirchenkleider angezogen. Ich nahm an, dass mein Vater und ich gleich wieder nach Hause fahren oder höchstens noch bei Schrafft’s ein Eis essen würden. Ich hatte davon gehört, als meine Mutter einmal mit uns nach Boston gefahren war, um eine Predigt von Bischof Fulton J. Sheen zu hören. Er war zwar katholisch, aber in diesem Fall machte meine Mutter eine Ausnahme.
Als wir auf die Straße Richtung Charles River fuhren, reichte mein Vater mir eine Cola aus der Kühltasche auf dem Rücksitz. »Was hältst du davon, wenn wir uns mal ein Kunstmuseum ansehen, da wir schon in der Nähe sind?«, fragte er.
Er hätte ebenso gut sagen können: »Was hältst du davon, wenn wir uns in einer Bar betrinken?«, oder: »Lass uns zur Rennbahn gehen und auf Pferde wetten.« So absurd fand ich diesen Vorschlag, wenn auch natürlich wunderbar.
Eigenartigerweise hatte er sich nicht für das Museum of Fine Art entschieden. Das entdeckte ich erst später, als ich ganz in der Nähe studierte. An diesem Tag gingen wir ins Isabella Stewart Gardner Museum, und man konnte sich fragen, wie mein Vater überhaupt davon gehört hatte.
»Als ich noch ein Junge war«, erzählte er, »hat mein Vater mich mal ins Fenway-Park-Stadion mitgenommen, damit ich Lefty Grove pitchen sehen konnte. Ich finde, jeder Vater sollte so was mindestens einmal im Leben machen – mit seinem Kind etwas ganz Besonderes unternehmen.«
Dass er das mit mir alleine machte und ein Kunstmuseum ausgesucht hatte – und nicht die Old North Church, das Museum of Science oder das Baseballstadion –, erfüllte mich mit Stolz. Als wir das Museum betraten und den Eintrittspreis sahen – vier Dollar –, fürchtete ich, dass er das vielleicht zu kostspielig finden würde. Aber er zögerte keine Sekunde, sondern klappte seine Brieftasche auf, zählte die einzelnen Scheine ab und gab mir meine Eintrittskarte, damit ich sie selbst vorzeigen konnte.
»Vielleicht willst du den Abriss ja aufheben«, sagte er. »Als Souvenir.«
Als wir die Treppe in den ersten Ausstellungsraum hinaufstiegen – ich rannte voraus, weil ich so aufgeregt war, in einer Villa zu sein –, rief mein Vater nach mir.
»Was glaubst du wohl, Ruthie«, sagte er. »Schau mal, wer da drüben ist.«
Da dieses Museum mit Sicherheit kein Ort war, an dem mein Vater und ich Bekannte treffen würden, dachte ich zuerst, er hätte eine berühmte Persönlichkeit entdeckt – vielleicht den Nachrichtensprecher von unserem Lokalsender oder einen Spieler von den Red Sox, obwohl das Isabella Stewart Gardner Museum für die auch ein unwahrscheinlicher Aufenthaltsort war.
Doch es handelte sich um Val Dickerson, die mit dem Abriss ihrer Eintrittskarte die Treppe heraufkam. Nur Val, ohne Ray und Dana.
Ich kannte sie nur in ihrem Mal-Aufzug – alte Jeans, ein Männerhemd von George mit hochgekrempelten Ärmeln, die langen blonden Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Jetzt trug sie ein Kleid und hochhackige Schuhe, in denen sie noch größer wirkte, und hatte Lippenstift aufgelegt. Mir war nicht klar gewesen, was für eine schöne Frau sie war.
»So eine Überraschung«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, als wolle sie mich genauer in Augenschein nehmen. Vielleicht machte sie dasselbe wie meine Mutter, die mich immer mit Dana verglich. Ich fühlte mich jedenfalls plötzlich linkisch und unansehnlich. Meine Hosen waren zu kurz, und ich hatte einen Pickel am Kinn.
Aber Val Dickerson betrachtete mich nicht mit dem abschätzigen Blick, den ich von meiner Mutter her kannte. Sie sah mich so forschend an, dass ich wegschauen musste. Dann streichelte sie mir die Wange, und als ich sie wieder ansah, hatte sie Tränen in den Augen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte. In meinem gesamten Leben hatte ich meine Mutter nie weinen sehen, nicht einmal, als sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters bekam. Andererseits war mir klar, dass Val Dickerson vollkommen anders war als meine Mutter. Schwer zu sagen, was in ihrem Kopf vorging. Vielleicht war sie ergriffen von all den großartigen Kunstwerken hier. Bei Val wusste man nie.
Da ich unsicher war, was ich tun sollte, studierte ich den Prospekt vom Museum mit dem Lageplan.
»Sie ist wunderschön, Eddie«, sagte Val. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand meinen Vater Eddie nannte. Für meine Mutter war er
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