Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Leben ruiniert. Da ertrage ich es noch eher, dass du mich hasst.«
Als ich meinen Vater bedrängte, wandte er sich ab. »Ich weiß, dass es dir jetzt vorkommt wie das Ende der Welt«, sagte er. »Aber die Zeiten ändern sich auch wieder.« Das war die Weltsicht eines Farmers. Man zog Pflanzen groß, dann kam der Frost, und sie gingen ein. Doch dann wurde wieder Frühling. Es gab niemals ein Ende, nur den Kreislauf der Jahreszeiten. Alljährlich die Chance für einen Neuanfang.
Meinem Vater verzieh ich. Meiner Mutter niemals. Ich konnte nicht mehr mit ihr sprechen.
Aber auf seltsame Weise sorgte dieser neue Hass auf meine Mutter dafür, dass ich endlich das Bett verließ. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, sie mit Suppe und Crackern in mein Zimmer kommen zu sehen, rappelte ich mich auf und packte meine Sachen. Dann rief ich meinen Freund Josh an, der damals noch in Boston lebte, und fragte ihn, ob ich bei ihm wohnen könne, bis ich etwas Eigenes gefunden hätte. Am nächsten Tag kam er mit seinem Sportwagen angefahren und holte mich ab. Josh schaffte es immer, sich bei Müttern beliebt zu machen.
»Mit so einem jungen Mann solltest du Umgang pflegen«, hätte sie früher vermutlich gesagt. »Auch wenn er dem jüdischen Glauben anhängt.«
Doch diesmal verlor sie kein Wort über Josh. Auch meine Mutter schien erschüttert zu sein durch die Ereignisse in Kanada. Sie hatte erfolgreich mein Leben ruiniert, und mit ihrer Furcht erregenden Kraft und eisernen Entschlossenheit war es ihr gelungen, mich auf die Farm zurückzubringen. Doch nun wirkte auch sie verbraucht und erschöpft.
Sie schwieg, als ich meinen Koffer zu Joshs Wagen trug. Ich nahm so gut wie nichts mit nach Boston. Ich wollte keine Erinnerungen an mein bisheriges Leben.
»Ihr habt wohl kein gutes Verhältnis, deine Mutter und du«, sagte Josh zu mir, nachdem ich einen letzten Blick auf mein Zimmer geworfen hatte und zu ihm ins Auto stieg.
»Wenn ich sie nie wiedersehe, soll es mir recht sein«, erwiderte ich.
Eine Handlung vollzog ich noch, bevor ich an diesem Tag die Farm verließ. Ich kramte das Skizzenbuch aus meiner Schulzeit zwischen den Jugendzeitschriften und alten National-Geographic -Heften unter dem Bett hervor – jenes Buch, in dem ich als Dreizehnjährige meine wilden Fantasien von allen erdenklichen Kombinationen von männlichen und weiblichen Körpern gezeichnet hatte. Meine frühen Versuche pornografischer Darstellungen.
All die Jahre war dieses Dokument unter meinem Bett verborgen gewesen. Jetzt nahm ich es mit nach unten in die Küche und legte es auf den Küchentisch, neben die Bibel, in der meine Mutter jeden Morgen las, während sie ihren Kaffee trank.
Kommentarlos. Sie würde die Künstlerin erkennen.
Dana
Paradiesischer Zustand
D as Leben mit Clarice auf unserer kleinen Ziegenfarm im südlichen Maine war ein paradiesischer Zustand für mich. Eine begnadete Gärtnerin war Clarice nicht. Das kann man nicht sein, wenn man so sehr auf seine Fingernägel achtet. Aber sie pflückte leidenschaftlich gerne Blumensträuße für unseren Selbstbedienungsstand an der Straße, sammelte Eier ein und ritt auf ihrem Pferd Jester in der Umgebung aus.
Wir stellten einen Liegestuhl in den Schatten, wo sie Hausarbeiten lesen oder Seminare vorbereiten konnte, während ich auf den Erdbeerfeldern arbeitete oder Ziegenmilch zur Zentrifuge trug. Manchmal brachte sie mir ein Glas Limonade, oder ich kam zu ihr, um ihr etwas zu zeigen – einen ungewöhnlichen Käfer oder eine Porzellanscherbe, die ich beim Harken in einem Areal entdeckt hatte, das Fletcher Simpsons Vorfahren offenbar als Müllhalde genutzt hatten.
Über das Erdbeerprojekt machte ich mir wissenschaftlich exakte Aufzeichnungen, notierte Niederschlagsmengen, die Anzahl der Blüten jeder Pflanze und beurteilte Süße und Farbe der Beeren auf einer Skala von eins bis zehn. Dafür nahm ich die Hilfe von Clarice in Anspruch; sie musste meine Beeren, die jeweils mit einer Ziffer versehen waren, kosten und bewerten. Dabei saß ich gerne zu ihren Füßen, während sie eine Beere nach der anderen langsam verzehrte, und beobachtete ihr Gesicht – die Verzückung, wenn eine Beere außergewöhnlich köstlich war.
»O mein Gott, o mein Gott«, stöhnte sie dann ekstatisch, als sei diese Frucht so berauschend, dass es einem Orgasmus gleichkam, sie auf der Zunge zu spüren.
»Nein. Nein. Nein. Nein. Ja.«
Nachmittags gingen wir mit Fletchers alter Hündin am Bach spazieren und pflückten
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