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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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    »Du verstehst nicht, wie das in meiner Arbeitswelt läuft«, sagte sie zu mir, als ich wegen des Essens nicht lockerließ. »Es würde meiner Stellung an der Uni schaden.«
    »Arbeitest du nicht in einer gehobenen Bildungsinstitution?«, erwiderte ich. »Sollten Akademiker nicht nur an der Universität, sondern auch außerhalb freies Denken kultivieren? Stell dir doch mal vor, dass in deinen Vorlesungen Studentinnen sitzen, die einen inneren Kampf austragen, weil sie merken, dass sie lieber mit Frauen statt mit Männern zusammen sein möchten? Welche Botschaft übermittelst du denen mit deinem Schweigen? Für deren Zukunft wäre deine Offenheit und dein Mut, dich zu deiner Lebensweise zu bekennen, vielleicht wesentlich wichtiger als Kenntnisse über die Renaissance in Italien oder britische Architektur.«
    »Ich bin nicht an der Uni, um politisch Position zu beziehen«, entgegnete Clarice. »Ich bin Kunsthistorikerin. Die Universität ist mein Arbeitsplatz. Mein Privatleben hat damit nichts zu tun.«
    »Kannst du nicht beides verbinden? Ich kann es.« Obwohl ich in der Landwirtschaft häufig mit älteren Menschen zu tun hatte, die zu konservativen Ansichten neigten, hatte ich nie Probleme bekommen, wenn ich durchblicken ließ, dass ich mit einer Frau liiert war.
    Im nächsten Jahr, kurz vor meinem vierunddreißigsten und dem vierzigsten Geburtstag von Clarice, wurde an der Uni eine feste höher dotierte Stelle ausgeschrieben – eine Chance, auf die Clarice über zwölf Jahre lang gewartet hatte. Die Entscheidung über die Besetzung würde vom Fachbereich und der Hochschulleitung etwa zum Zeitpunkt der Abschlussprüfungen getroffen werden. Aufgrund von ihrer Beliebtheit bei den Studierenden und ihren neuesten Veröffentlichungen gab es für uns beide eigentlich keinen Zweifel – wiewohl Clarice sich noch ab und an Sorgen machte, dass sie die Stelle bekommen würde. Wir hatten sogar schon begonnen, eine Reise zum Yellowstone-Nationalpark zu planen, die wir von ihrer Gehaltserhöhung finanzieren wollten.
    »Ich weiß, dass die meisten Kunsthistoriker nach Florenz oder so fahren würden«, sagte Clarice. »Aber weißt du, was ich viel lieber sehen möchte? Büffelherden. Und das Annie Oakley Museum.«
    Seit dem vergangenen Herbst arbeitete ich einmal wöchentlich an der örtlichen Grundschule und machte mit den Kindern Projekte zu Pflanzen und Tieren. Ich verfolgte damit das Ziel, mir in der Gemeinde, in der ich lebte und in der ich – im Gegensatz zu meiner unsesshaften Familie – auch verwurzelt bleiben wollte, ein Kontaktnetz zu schaffen.
    Doch ich hatte mich noch aus einem anderen Grund zu diesem Einsatz entschieden. Ich wollte Kinder in unserem Leben. Der Wunsch, mit der Frau, die ich liebte, ein Kind großzuziehen, wurde immer stärker. Am liebsten hätte ich ein eigenes gehabt, und wir sprachen manchmal auch darüber, doch es erschien uns nicht wirklich machbar.
    »Wenn wir meinen Bruder als Samenspender nehmen würden«, sagte ich – und es war mir ziemlich ernst damit –, »wäre das Kind ja beinahe von mir.« Doch noch während ich das aussprach, wurde mir wieder bewusst, wie unterschiedlich Ray und ich waren.
    Außerdem hätte es noch eine weitere Hürde gegeben: Ich hatte keine Ahnung, wo Ray steckte. Vor ein paar Jahren hatte Ruth Plank mich angerufen, weil sie ihn suchte, und mir dabei berichtet, dass er auf einer Insel in British Columbia lebte. Seither hatte ich nichts mehr von ihm gehört, auch nicht über Val.
    Clarice und ich beschlossen, uns nach einem Adoptivkind umzusehen, sobald sie ihre neue Stelle bewilligt bekommen hatte. Damals wären zwei Frauen von den meisten Ländern nicht als Adoptiveltern akzeptiert worden, aber wir glaubten fest daran, dass wir irgendwo ein Kind finden würden, das ein Zuhause brauchte; vielleicht würde es schon etwas größer sein, aber damit hatten wir kein Problem. Bis es so weit war, wollte ich andere Wege beschreiten, um Kinder in unser Leben zu bringen – und aus diesem Grund hatte ich das »Farmer-in-den-Schulen«-Programm initiiert.
    Die Arbeit mit den Kindern bereitete mir große Freude. Wir pflanzten Bohnen in Pappbecher und züchteten Joghurtkulturen – eine der wenigen Anregungen aus meiner Kindheit, die zu etwas nützlich gewesen waren. Wir steckten Selleriestängel in Lebensmittelfarbe und schauten zu, wie die Farbe langsam aufstieg, um zu begreifen, auf welche Weise die Pflanze Nährstoffe aufnahm. Und ich machte mit den Kindern

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