Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
tatsächlich war er rundum ein Experte für Vermeidung von Risiken. Und er war hundertprozentig verlässlich und mir treu ergeben – so beständig wie ein Metronom. Schon nach kurzer Zeit war mir klar, dass ich mehr Anlass hatte, diesem durch und durch anständigen Mann zu vertrauen als mir selbst.
Vor meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag – zur Erdbeerzeit, am Nationalfeiertag – lud Jim mich zu einem Wochenende in einem Hotel an der Küste von Maine ein. Schon auf der Hinfahrt wusste ich, dass er mir einen Heiratsantrag machen würde. Jim war leicht zu durchschauen.
Als wir abends im Restaurant des Hotels die Speisekarte gereicht bekamen, fiel mir ein Name auf. »Unser Gemüse stammt ausschließlich aus organischem Anbau von der Smiling-Hills-Farm; Eigentümerin Dana Dickerson«. Abgesehen von dem Anruf im Vorjahr, als ich verzweifelt versucht hatte, vor der Abtreibung Ray zu finden, hatte ich seit Jahren nicht mehr mit meiner Geburtstagsschwester gesprochen.
Vielleicht weiß sie, wo er jetzt ist , dachte ich.
Und wenn: Halt dich bloß fern .
Wir aßen Steaks, und danach bestellte Jim Sekt und gab der Kellnerin ein Zeichen, das vermutlich geheim sein sollte, es aber nicht war. Sofort wurde die Crème brûlée gereicht, die für mich mit einem Diamantring garniert war.
Es war nicht diese kitschig-romantische Geste, die mich rührte. Nichts, was Jim Arnesen sich ausdachte, hätte mich jemals so berühren können wie die Szenen, die ich in dem eiskalten Bett in British Columbia mit Ray erlebt hatte. Doch ich empfand etwas für Jim. Als ich ihn ansah – seine Augen waren feucht geworden, und er hatte meine Hand ergriffen –, spürte ich keinerlei Rauheit, keinerlei Anzeichen von Gefahr oder Bedrohung, nur Güte. Jim war ein guter Mann.
»Ich liebe dich, aber ich bin nicht verliebt in dich«, sagte ich. Diese abgedroschene Bemerkung, die so bedeutungsvoll klingt, obwohl sie im Grunde nur aussagt, dass der Verstand in einer Beziehung die Oberhand hat, nicht das Gefühl.
»Das genügt mir vollkommen«, erwiderte Jim. »Solange ich in dich verliebt sein darf.«
»Ich bin aber ein ganz schwieriger Mensch«, sagte ich. »Ich wünsche mir manchmal Dinge, die ich nicht haben kann. Und es gibt bestimmt manches an mir, was dir gar nicht gefallen würde.«
Bilder von Ray und mir. Spuren meiner Fingernägel auf seinem Rücken. Unsere Körper von Schlamm bedeckt. Tage im Bett, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Keine Worte, nur Tierlaute.
»Ich bin vollkommen mit dir zufrieden, so wie du jetzt bist«, sagte Jim. »Es sei denn, du lehnst meinen Antrag ab. Daran würde ich etwas ändern wollen. Wenn du mit mir zusammen sein willst, brauche ich nichts anderes mehr.«
Mir kam ein Gedanke: Ich kann diesen Mann glücklich machen. Und dies war mir mit keiner meiner wildesten Liebesbezeugungen bei Ray Dickerson jemals geglückt.
Wir heirateten im Herbst – im Standesamt des Rathauses. Jims Eltern lebten nicht mehr, und ich wollte niemanden einladen, auch nicht meine Eltern. Ein paar Tage später rief ich meinen Vater an – zu einer Zeit, in der meine Mutter für gewöhnlich in der Kirche war – und erzählte es ihm.
»Ich hoffe, dass du glücklich wirst«, sagte er. »Ich wünschte, wir hätten an deinem großen Tag dabei sein können.«
Es war kein so großer Tag, hätte ich fast gesagt. Ich hatte schon einen großen Tag gehabt, und ich wollte keinen mehr. Von jetzt an nur noch kleine. Ganz gewöhnliche Tage, für den Rest meines Lebens.
Dana
Eine Frage des Lebensstils
D ie einzigen Spannungen, die es zwischen mir und Clarice gab, entstanden durch ihre mangelnde Bereitschaft, ihren Kollegen an der Uni unsere Beziehung zu offenbaren. Ich holte sie zwar manchmal von den Seminaren ab, wartete dann aber im Auto. An Festen im Fachbereich nahm ich nicht teil. Irgendwann – ich glaube, 1983 – wurde Clarice von den Studierenden als einzige Person des Fachbereichs zum Ehrenmitglied ihres Kurses gewählt. Es gab ein Essen, bei dem sie eine Rede halten sollte.
»Ich möchte mitkommen«, sagte ich. »Ich finde, allmählich sollte mal klar sein, dass es jemanden an deiner Seite gibt, der dich liebt.« Auch das war ein wiederkehrendes Thema zwischen uns. Da Clarice überall alleine auftrat, versuchten die Kollegen immer wieder, sie mit frisch verwitweten oder geschiedenen Männern zu verkuppeln. Sie lehnte diese Vorschläge ab, ließ aber alle im Unklaren darüber, weshalb sie kein Interesse an den potenziellen
Weitere Kostenlose Bücher