Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
sie etwas von ihm wusste.
»Ich habe keine Ahnung, wo er ist«, sagte sie. »Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Und deshalb nickte ich schließlich nur, als meine Mutter ein paar Tage später zu mir sagte, sie habe einen Termin in einer Klinik vereinbart.
Meine Schwester Winnie begleitete uns an diesem Tag nach Boston und saß bei mir im Wartezimmer, während meine Mutter draußen blieb. Ich glaubte inzwischen, dass ich verrückt werden würde. Ich wehrte mich nicht mehr. Beobachtete nur das Geschehen, als sei dies die unheimlichste Folge von Twilight Zone, die ich je gesehen hatte, und als sei ich selbst Teil der Handlung.
Eigenhändig unterzeichnete ich die Papiere für den sogenannten »Eingriff«; meine Mutter hatte sie ausgefüllt.
Meine Mutter, eine Frau, die glaubte, dass das Leben mit der Empfängnis begann, hatte mich in eine Abtreibungsklinik gebracht. Und ich, eine Frau, die noch sieben Wochen zuvor die Mitteilung von ihrer Schwangerschaft als freudigste Nachricht ihres Lebens empfunden hatte, legte die Beine in die Halterungen.
Ich konnte nur annehmen, dass ich den Verstand verloren hatte. Und eine Zeit lang war es dann wohl auch so.
Dana
Wunder gibt es immer wieder
N achdem Clarice und ich Fletchers Haus gekauft hatten – das wir »Smiling Hills« nannten –, schaute ich öfter mal bei der Plank-Farm vorbei. Zunächst tat ich das nur, weil wir jetzt in der Nähe wohnten und die Farm auf meinem Weg zur Uni lag; wenn Clarice abends länger arbeitete, holte ich sie ab, weil ich nicht wollte, dass sie alleine nach Hause fuhr. Und auch Erdbeer- und Maisernte waren ein Anlass für mich, der Plank-Farm einen Besuch abzustatten.
Meine Begeisterung für Ziegen hielt an, und wir hatten uns inzwischen eine kleine Herde zugelegt – an die zwölf Hausziegen, aus deren Milch ich aromatischen Käse herstellte. Um unseren eigenen Bedarf an Eiern zu decken, hatten wir ein paar Hühner. Und wir hatten Clarice einen lebenslangen Traum erfüllt und ein Pferd gekauft, Jester.
Da wir nicht viel Land besaßen, mussten wir uns entscheiden, was wir anbauen wollten. Clarice liebte Erdbeeren, die in unserer Region gut gediehen, und deshalb beschloss ich, sie zu unserem zweiten Hauptprodukt neben dem Ziegenkäse zu machen. Und weil die Erdbeeren von der Plank-Farm die besten waren, die ich jemals gegessen hatte, stattete ich Edwin einen Besuch ab, um mich von ihm beraten zu lassen.
Die meisten Farmer würden ihre Kenntnisse nicht an potenzielle Konkurrenten weitergeben wollen, aber Edwin hatte sein Wissen schon immer großzügig mit mir geteilt. Als ich anrief und ihm mein Anliegen schilderte, war er nicht nur bereit, sich darauf einzulassen, sondern schien sich sogar darüber zu freuen.
Das Grundprinzip der Vermehrung war einfach: Wenn Erdbeerpflanzen wachsen, treiben sie Ausläufer, die nach Absterben der Mutterpflanze weiter bestehen. Diese nennt man Tochterpflanzen.
Wer Erdbeeren anbaut, weiß, dass man die Tochterpflanzen abschneiden muss. Wenn man sie wachsen lässt, wird das Beet zu voll, die einzelnen Pflanzen können sich nicht entwickeln, und man bekommt nur einen geringen Ertrag und kleine Beeren. Um eine gute Ernte zu erzielen, sagte mir Edwin Plank, musste man die fünf gesündesten und kräftigsten Tochterpflanzen für die nächste Saison auswählen.
Die meisten kommerziellen Erdbeerzüchter kaufen jedes Jahr Samen und Tochterpflanzen in Gärtnereien, anstatt selbst den mühsamen Prozess zu durchlaufen, eigene Pflanzen heranzuziehen. Aber auf unserer Farm wollte ich Erdbeeren anbauen, die perfekt an unsere Gegend – New Hampshire und die Küstenregion des südlichen Maine – und unseren Boden angepasst waren. Das war mein Hauptgrund für mein Gespräch mit Edwin Plank, wiewohl ich auch gerne mit ihm über unsere gemeinsame Freude an der Landwirtschaft plaudern wollte.
»Ich habe auf diesen Moment gewartet«, sagte er, als wir uns an jenem Nachmittag begrüßten. Als er mit mir zum Gewächshaus ging, wirkte er ein wenig aufgeregt – sofern das bei einem so in sich gekehrten Mann wie ihm überhaupt möglich war.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, meinte er. »Ich hab da ein Projekt, das dich interessieren könnte. Mit deinem Uniabschluss wärst du vielleicht genau die Richtige, um es zu übernehmen.«
Obwohl Edwin im Gegensatz zu mir nie Gartenbauwirtschaft studiert hatte, war er ein Amateurbotaniker. Schon als Junge hatte er sich
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