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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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ein Experiment, das mir selbst vor vielen Jahren Spaß gemacht hatte: Wir zogen kleine Pflanzen aus dem Kern einer Avocado. Im Frühjahr brachte ich ein Zicklein mit in die Schule, das die Zweitklässler im Arm halten durften, und ich gab ihnen Milch von der Mutterziege und den aus der Milch hergestellten Käse zum Probieren.
    Bei diesen Projekten dachte ich oft an den Mann, der mir früher so viel erzählt hatte: Edwin Plank. Und ich fand die Vorstellung schön, dass eines der Kinder aus dieser Schule vielleicht eines Tages ein Stück Land besitzen und etwas darauf anbauen würde. Oder dass andere, angeregt durch ihre Erlebnisse in meinen Projekten, auf ihrer Veranda in Blumentöpfen Cherrytomaten und Kräuter ziehen würden. Ich war der Überzeugung, dass solche Traditionen der Welt erhalten bleiben sollten.
    Gegen Ende des Schuljahres lud ich die Drittklässler zum Picknick auf unsere kleine Farm ein. Es war noch zu früh für Erdbeeren, aber Clarice machte Limonade und buk Ingwerkekse, und die Kinder konnten ein paar frühe Zuckererbsen knabbern und in Futtersäcken Sackhüpfen spielen. Zur Feier des Tages schmückte Clarice Jesters Zaumzeug mit Narzissen, und die Kinder durften auf seinem Rücken sitzen und wurden eine Runde ums Feld geführt.
    Da Kleidung mir nicht wichtig war, trug ich an diesem Tag wie immer Blue Jeans, allerdings mit einem etwas feineren Hemd. Aber Clarice, die zuhause geblieben war, um an meiner Seite zu sein, hatte ein altmodisches Kleid mit Spitzenkragen und einem weit schwingenden Rock angezogen, weil sie wusste, dass es den kleinen Mädchen gefallen würde. Vormittags bereitete sie eine Schnitzeljagd auf unserem Grundstück vor.
    Die Kinder wurden von einer Gruppe Eltern zu uns gebracht, die sich bereit erklärt hatten, die Schnitzeljagd zu beaufsichtigen. Alle stiegen gerade aus den Autos – während die Kinder schon zu unseren Gattern mit den Zicklein rannten –, als ein seltsamer Ausdruck auf Clarice’ Gesicht trat.
    »Diese Frau kenne ich«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf eine der Mütter. Die Frau trug einen Hosenanzug und hatte einen Pagenschnitt, den sie mit der Rundbürste nach innen geföhnt hatte. Diese Frisur erinnerte mich immer an ältere Betschwestern, aber die Frau war noch keine vierzig. Neben ihr ging Jennifer, ein Mädchen, das mich einmal gebeten hatte, ihr ein paar Feuerbohnen extra zum Einpflanzen zu geben.
    »Die ist mit einem Mann aus meinem Fachbereich verheiratet«, erklärte sie. »Unserem Impressionismusexperten.«
    »Ich vermute, dann willst du einen besonders guten Eindruck machen«, sagte ich, aber Clarice war sichtlich nicht nach Scherzen zumute.
    »Ich hätte nicht hier sein sollen«, sagte sie. »Das ist wirklich dumm von mir. Das Risiko ist viel zu groß.«
    »Du hast Verfolgungswahn«, entgegnete ich. »Da achtet doch niemand drauf.«
    Dann nahmen wir uns der Kinder an: Gartenrundgang, Schnitzeljagd, Dreibeinrennen, ein kleiner Imbiss. Als wir vor dem Haus standen, um den Kindern zum Abschied zu winken, und der letzte Wagen weggefahren war, ergriff Clarice meine Hand.
    »Ein wunderbarer Tag«, sagte sie und küsste mich.
    Zwei Wochen später fiel die Entscheidung über ihre Beförderung. Sie bekam einen Anruf vom Fachbereichsleiter.
    Ich stand neben ihr, als sie telefonierte. Und sah ihr sofort an, dass sie die Stelle nicht bekommen hatte.
    »Ich würde gerne wissen, welche Gründe für die Ablehnung angegeben wurden«, sagte Clarice. Ihre Stimme war ruhig, aber ich wusste, dass sie ihre wahren Gefühle verbarg.
    Der Fachbereichsleiter erklärte, es habe mit einer moralischen Frage zu tun, obwohl er persönlich anderer Ansicht sei. Eine Person habe die Frage nach sittlich fragwürdigem Verhalten aufgeworfen.
    »Mit einer Studentin?«, hörte ich Clarice fragen. »Hat jemand behauptet, eine Studentin sei involviert?« Clarice hatte mir von den zahlreichen Liebschaften zwischen – meist verheirateten – Professoren und Studentinnen berichtet, die stillschweigend toleriert wurden.
    Nein, von Studentinnen sei nicht die Rede, beruhigte sie der Fachbereichsleiter. Es sei eher »eine Frage des Lebensstils«, sagte er. Man sei zwar ausgesprochen interessiert daran, dass sie der Universität in ihrem Fach als Lehrende erhalten bliebe. Nur die feste Stelle sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Gespräch.
    Nachdem Clarice das Telefonat beendet hatte, legten wir uns zusammen aufs Bett und hielten uns in den Armen. Sie weinte nicht.
    »Es ist meine

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