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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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die andere.
    Und plötzlich veränderte sich die Welt für sie. Am einen Tag aß Mi Hi – was auf Koreanisch »Schönheit und Freude« bedeutet – noch Reis, den man ihr mit Stäbchen fütterte. Am nächsten Tag war Ae Sook verschwunden, und Mi Hi hieß Elizabeth, befand sich im Flugzeug nach Amerika und saß abwechselnd auf dem Schoß einer blassen Frau, die ihr das Haar streichelte, und eines gütigen, sanften Mannes, der ihr einen Cracker reichte und behutsam sagte: »Wie geht’s dir, Elizabeth? Ich bin dein Vater.« Jim sprach mit Kindern nicht anders als mit Erwachsenen.
    Ich blickte auf unsere Tochter. Ihr kleines Gesicht war ernst; sie lächelte nicht, aber sie schien sich auch nicht unwohl zu fühlen. Sie hatte noch keine Worte für ihre Gefühle – und selbst wenn, hätte ich sie nicht verstehen können.
    Wir kamen am Logan Airport an, stiegen ins Taxi und öffneten kurz darauf die Tür zu unserer Wohnung in Brookline. Über Elizabeths Bettchen hatten wir ein Musikmobile aufgehängt, das Rainbow Connection spielte. Vor dem Fenster funkelten die Lichter von Boston, und am Fenway-Park-Stadion schimmerte die Citgo-Neonwerbung.
    Wir fütterten unserer Tochter pürierte Pfirsiche und machten Ausfahrten im Public Garden, um ihr die Tretboote mit den Schwanenfiguren zu zeigen. Ob sie noch Erinnerungen an Ae Sook hatte, an die Gerüche und Geschmäcker des Waisenhauses oder an die Frau, die sie auf der Schwelle abgelegt hatte, würden wir nie erfahren. Sie nahm alles geduldig hin. Wir waren nun ihre Familie.
    Nachdem wir so lange auf unser Kind gewartet hatten, wollte ich es eigentlich ständig im Arm halten, aber Elizabeth krabbelte schon; in ihrem Alter wäre sie normalerweise bereits gelaufen, aber man hatte sie im Waisenhaus so oft in diesem Gitterbett eingesperrt, dass ihre Entwicklung verzögert war.
    Mein Leben lang hatte ich immer einen Stift bei mir getragen, aber in den letzten zwei Jahren hatte ich kaum etwas gezeichnet. Jetzt zeichnete ich Elizabeth, bis sie mir den Stift aus der Hand grapschte. Stundenlang spazierte ich mit ihr durch Boston, zeigte ihr die Welt und brachte ihr Wörter bei, nahm sie aus dem Wagen, wenn wir zu einer Liegewiese kamen. Wir fütterten Enten, ich legte Plastikbuchstaben auf ihre Decke, schaute mit ihr Bücher an und imitierte die Tierstimmen. Ich selbst war zwar stets am liebsten im Teich geschwommen und hatte mich in künstlichen Schwimmbecken nie recht wohlgefühlt, aber unsere Tochter meldete ich für einen Schwimmkurs an. Wenn Jim abends nach Hause kam, saßen wir zu dritt in der Küche – Jim und ich jeweils am Kopfende des Tisches, Elizabeth in ihrem Kinderstuhl zwischen uns. Wenn ich Jim ansah, ruhte sein Blick immer auf mir, und er lächelte. Ich hingegen musste andauernd unsere Tochter anschauen.
    Es war ein beschauliches, behagliches Leben, das wir damals führten – Jim war im Büro und verkaufte seine Versicherungen, ich betreute zuhause Elizabeth. Keinerlei Anzeichen von Gefahr am Horizont.
    Ich liebte den ruhigen Rhythmus von Mittagsschlaf und Windelwechseln, von Essen und Spazierengehen, kleinen unaufwendigen Wochenendausflügen zum Kindermuseum, zum Strand, zum Streichelzoo. Am Samstagabend widmeten Jim und ich uns der Liebe – eine kleine Zeitspanne, die für mich eher von Zuneigung und ehelicher Routine geprägt war als von Leidenschaft, obwohl mein Mann im Dunkeln Worte raunte, die seine grenzenlose Liebe beschworen.
    Als Elizabeth alt genug war, brachte ich sie in die Vorschule, damit sie andere Kinder zum Spielen hatte und ich meine Ausbildung als Kunsttherapeutin abschließen konnte. Auch das nahm unsere Tochter mit demselben ruhigen Gleichmut hin, den sie bislang in ihrem neuen Leben an den Tag gelegt hatte.
    Es hatte mir nie etwas ausgemacht, mit ihr zuhause zu sein. Was ich vorher schlecht ertragen konnte, war Stille – unausgefüllte Zeit, in der Erinnerungen zum Leben erwachten. An Ray Dickerson. An meine Mutter, mit der ich jetzt gelegentlich am Telefon sprach und die ich zweimal im Jahr sah – an meinem Geburtstag am Wochenende des Nationalfeiertags und an Weihnachten, wenn wir der Farm einen Besuch abstatteten, um meine Eltern und meine vier Schwestern und deren Männer zu sehen; sie wohnten inzwischen alle auf den Grundstücken, die mein Vater ihnen überschrieben hatte.
    »Auch für dich gibt es ein Stück Land, Ruth«, sagte er mir jedes Mal, wenn Jim und ich in New Hampshire waren. »So weit wäre der Weg für Jim nicht, wenn ihr

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