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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Reise gerne im Frühjahr gemacht, wenn alles grün war, aber der Zustand von Clarice schien sich rasant zu verschlechtern. Ich wollte, dass sie diese Reise noch genießen konnte.
    Deshalb bat ich Nachbarn, nach unserem Haus zu schauen, und bereitete die Erdbeerbeete mit Mulch für den Winter vor. Für die Ziegen stellte ich jemanden ein; um diese Jahreszeit, wenn sie keine Milch mehr gaben und bis zum Frühjahr auch kein Käse gemacht werden konnte, gab es nicht viel zu tun.
    Clarice und ich brachen zu unserem großen Abenteuer auf. Sie saß neben mir auf dem komfortablen Beifahrersitz. Wir hatten vor, die ersten knapp dreitausend Kilometer – die Strecke von Maine bis Wyoming – möglichst schnell hinter uns zu bringen, damit Clarice noch genug Kraft für die Orte blieb, auf die sie sich am meisten freute: die Bighorn Mountains, die Tetons, den Yellowstone-Park.
    Ich hatte Kassetten mit ihrer Lieblingsmusik aufgenommen – Klassik, Jazz, Musicals, Folk und Country, obwohl ich das selbst nicht ausstehen konnte –, die wir während der Reise hörten.
    Ein irischer Folksong über eine Frau, deren Sohn mit einem Fischerboot aufs Meer hinausfährt und nie wiederkommt, rührte Clarice jedes Mal zu Tränen.
    »Denkst du da nicht auch an deinen Bruder?«, fragte sie. »Ich wünschte, ihr beide würdet wieder in Kontakt kommen.«
    »Er weiß, wo er mich finden kann«, erwiderte ich, ohne zu erwähnen, dass Ray in Wirklichkeit gar nicht mein Bruder war. »Er verschwindet eben immer wieder. Bei Vals Trauerfeier hätte er mit mir reden können, aber er ist einfach abgehauen.«
    »Eines Tages findet ihr vielleicht wieder zusammen«, meinte Clarice. »Kann doch sein, dass er dich braucht. Und du brauchst ihn vielleicht auch. Jeder Mensch sollte Familie haben.«
    Wir waren in Ohio auf einer langweiligen Autobahnstrecke.
    »Du bist meine Familie«, entgegnete ich. »Mehr brauche ich nicht.«
    In Indiana machten wir an einer Raststätte halt und kauften einen köstlich aussehenden Kuchen. Clarice konnte nicht mehr mit der Gabel essen, wollte jedoch in der Öffentlichkeit nicht von mir gefüttert werden.
    »Iss doch einfach mit den Fingern«, sagte ich und machte das auch, damit sie nicht die Einzige war.
    Von da an aßen wir alles mit den Fingern, ob es nun Pasta, Hühnchen oder Salat war. Und weil Clarice alle Getränke mit Strohhalm zu sich nahm, tat ich es ihr gleich.
    Abends fuhren wir immer auf irgendeinen Campingplatz, und ich klappte das Bett herunter. Dann half ich Clarice, auf die Toilette zu gehen, und putzte ihr die Zähne. Wenn ich die Vorhänge zugezogen und eine Kerze angezündet hatte, bürstete ich meiner Liebsten die Haare und entkleidete sie.
    In den ersten Monaten nach der Diagnose hatten wir noch Sex gehabt, doch auch das wurde bald mühsam für Clarice. »Nimm mich in die Arme, und zieh mich auf dich«, sagte sie.
    Doch ich wusste, dass sie es eigentlich nicht mehr genießen konnte und nur für mich tat. Und mir genügte es, wenn sie in meinen Armen lag.
    Gegen Ende Oktober erreichten wir den Süden von Wyoming. Wir ließen die Autobahn hinter uns und fuhren auf einer Landstraße durch die Bighorns. Felswände, in denen sich die Gesteinsschichten deutlich erkennen ließen, ragten zu beiden Seiten der Straße auf. Schilder am Straßenrand erklärten, in welchem Zeitraum diese Felsen entstanden waren. Vor 250 Millionen Jahren. Vor 350 Millionen Jahren.
    »Das ist tröstlich, oder?«, sagte Clarice. »Diese Zahlen halten einem vor Augen, wie kurz ein Menschenleben ist. Und dass wir alle letztlich nur kleine Staubkörner sind.«
    Die Sterne versetzten uns in Erstaunen. Weil wir oft nachts bei uns im Garten gelegen und zum Himmel aufgeblickt hatten, fühlte ich mich mit den Sternbildern vertraut. Doch hier schienen die Sterne viel klarer und heller zu strahlen.
    Wir kamen an Wasserfällen und seltsamen roten Felsformationen vorüber, die in der Ebene aufragten wie Totempfähle. Weil Clarice mir Sporen schenken wollte, machten wir an einem Souvenirladen halt. Ich kaufte ihr eine Angoradecke.
    »Meinst du, ich brauche jetzt nur noch Behindertenzeug?«, fragte sie mit scharfem Unterton. Zum ersten Mal seit unserer Abreise erlebte ich Bitterkeit bei ihr.
    Deshalb kaufte ich ihr noch ein kleines Taschenmesser mit Perlmuttgriff, eine Elfenbeinhaarspange und Chaps.
    Die Chaps trug sie über der Sweathose, die sie nun ständig anhatte, um sich nicht umziehen zu müssen. Die Sweats seien praktisch und die Chaps stilistisch

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