Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
Vom Netzwerk:
interessant, verkündete sie.
    In einer Stadt namens Buffalo entdeckten wir das Hotel Occidental, das uns an alte Westernfilme erinnerte.
    Wir taten so, als sei Clarice eine Rodeoreiterin, die ich tragen musste, weil sie sich bei einem Sturz verletzt hatte. »Haben Sie schon mal von Calamity Jane gehört?«, raunte ich der Frau an der Rezeption zu. »Das ist ihre Ururenkelin. Sie ist beim Bullenreiten in Cody schlimm gestürzt.«
    Die Frau schien uns zu glauben. Wir bestellten Essen aufs Zimmer, futterten am Boden vor dem Kamin Büffel-Steaks und tranken eine Flasche Wein.
    »Ist allmählich auch egal, ob ich mich betrinke«, sagte Clarice. »Ich lalle ja sowieso.«
    »Dieses Zimmer sieht nach einem Bordell aus«, sagte ich, als ich Clarice auf das Pfostenbett mit dem roten Samtüberwurf setzte und ihr die Schuhe auszog.
    »Lass uns so tun, als seien wir auf der Flucht«, sagte sie. »Wir haben die Postkutsche überfallen.«
    »Wir haben einen Sheriff erschossen, und jetzt sind sie uns auf den Fersen«, setzte ich die Geschichte fort. »Wir wissen, dass wir ihnen nicht entkommen können. Es ist unser letzter Abend in Freiheit.« Als Wissenschaftlerin, die an Fakten glaubte, lag es mir eigentlich gar nicht, mir Geschichten auszudenken. Doch Clarice – und nur ihr – gelang es, meine Fantasie zu beflügeln.
    »Wir können alles tun, was wir wollen«, sagte ich.
    Was nicht mehr der Wahrheit entsprach. Die Einschränkungen nahmen ständig zu, was uns beiden wohl bewusst war.
    »Ich will ein großes Schokoeis«, sagte sie. »Ist mir einerlei, ob es dick macht.«
    Drei Tage lang fuhren wir durch den Yellowstone-Park und hielten immer wieder an, um Elche oder Büffelherden zu beobachten. Am Ufer des Yellowstone Lake machten wir ein Picknick, kuschelten uns unter eine Decke und sahen den Pelikanen zu. Um die Geysire zu besichtigen, konnte man einen Rollstuhl ausleihen.
    »Ich glaube, ich sollte so einen haben«, sagte Clarice zu meinem Erstaunen. Bislang hatte sie Rollstühle gemieden.
    Wir plauderten über die Vergangenheit, über die Tiere und Felsen und das Licht über der Ebene und waren uns einig, dass unsere alte Hündin Katie zu gerne hier herumgerannt und auf der Fahrt den Kopf aus dem Fenster gesteckt hätte.
    Über die Zukunft sprachen wir nie. Aber eines Abends, als wir zusammen auf unserem Klappbett lagen, wandte sie sich zu mir. Sie sprach jetzt immer langsamer und manchmal so leise, dass ich mich zu ihr beugen musste.
    »Ich glaube nicht, dass ich das System mit dem Blinzeln hinkriegen werde«, sagte sie. »Ich kann Wörter nicht einzeln buchstabieren. Wenn ich ein Wort geschafft hätte, wüsste ich wahrscheinlich nicht mehr, was ich dir sagen wollte.«
    Es war sinnlos, etwas Aufmunterndes zu erwidern. Es gab keinen Zweifel, dass dieser Zustand kommen würde. Und er würde schlimmer sein als alles, was wir uns jetzt vorstellen konnten.
    »Ich muss dich darum bitten«, sagte Clarice dann. »Damit es gar nicht erst dazu kommt. Ich muss ein Ende machen, bevor es so schlimm wird, dass ich es dir nicht mehr sagen kann. Und ich glaube nicht, dass ich es alleine schaffe.«
    Unser Campingplatz lag in der Nähe einer Schlucht. Morgens hatten wir hinuntergeblickt und in der Tiefe den Yellowstone River dahinrauschen sehen, zwischen gezackten Felsen, die im Sonnenlicht rot und gelb, rosa und orange leuchteten. Das Wasser stürzte so wuchtig über die Felsen, dass wir die Gischt sogar hoch oben auf der Haut spürten. Und auch jetzt, im Dunkel der Nacht, hörte ich das Grollen des Flusses.
    Wir könnten uns an der Hand fassen und springen, dachte ich. Aber ich könnte niemals zusehen, wie sie alleine hinunterstürzt.
    »Versprich mir, dass du mir hilfst, wenn es so weit ist«, sagte sie.
    Ich versprach es ihr.

Ruth
    Ein wildes, wunderbares Land
    I ch hätte mir niemals vorstellen können, dass Jim und ich uns scheiden lassen würden – doch genau das geschah jetzt mit verblüffender Geschwindigkeit. Jim zog noch vor Weihnachten aus, und bevor im Frühjahr der Schnee schmolz, waren die Papiere unterzeichnet. Im Spätsommer heiratete Jim dann wieder – in kleinem Rahmen, aber im Gegensatz zu unserer Hochzeit gab es ein richtiges Fest mit Musik und Gästen, und die Braut trug ein weißes Kleid, wie mir von unserer Tochter berichtet wurde.
    Ich hatte nichts gegen seine Entscheidung einzuwenden. Als ich ihn mit seiner neuen Frau erlebte (einer Versicherungskundin, die er nach dem Tod ihres langjährigen Ehemannes betreute),

Weitere Kostenlose Bücher