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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Krankheit in Kenntnis gesetzt, und so hielt ich es auch. Wir sprachen erstaunlich selten darüber. Früher hatten wir Pläne geschmiedet – wir wollten ein Gewächshaus bauen und zu ihrem fünfzigsten Geburtstag nach Europa oder endlich zum Yellowstone-Nationalpark fahren. Doch jetzt erwähnten wir nur noch Pläne für die kommenden Tage oder Wochen.
    Wir waren sehr behutsam mit unseren Vorstellungen für die Zukunft, denn an jedes Vorhaben waren nun andere Fragen geknüpft. Wie gut würde Clarice im nächsten Jahr noch gehen können? (Ich untersagte mir, mich zu fragen, ob sie dann überhaupt noch gehen konnte.) Würde sie Treppen steigen können? Wann würden die Sprechprobleme einsetzen? Würde sie noch telefonieren können?
    Fünf unserer Ziegen waren in diesem Frühjahr trächtig. Das erste Zicklein kam mitten in der Nacht, kurz vor dem Valentinstag. Es hatte zwölf Grad minus, und ich war in die Scheune gegangen, um nach den Tieren zu sehen. Da lag das Zicklein. Normalerweise hätte ich es im Stall gelassen, aber da es so kalt war, beschloss ich, Mutter und Kind ins Haus zu nehmen.
    Unter normalen Umständen hätte Clarice mir geholfen, aber jetzt trug ich beide Tiere nacheinander in die Küche und legte sie dort auf Decken in die Nähe des Ofens.
    Clarice, im Schlafanzug, legte sich zu den beiden.
    »Es ist gut, dass du so stark bist, Dana«, sagte sie. »Wir werden deine Kraft bald brauchen.«
    Im späten Frühjahr – ein paar Monate nach Vals Tod – konnte Clarice ohne Krücke nicht mehr gehen. Als ich die Tomaten setzte, brauchte sie schon einen Rollator. Sie wollte gerne draußen in meiner Nähe sein, aber auf dem unebenen Boden kam sie nur mühsam vorwärts.
    »Ich glaube, wir sollten Jester verkaufen«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn er immer nur im Stall steht und nicht geritten wird.«
    An warmen Tagen ruhte Clarice im Liegestuhl auf der Veranda, während ich auf dem Erdbeerfeld war. Ich arbeitete nach wie vor an der Verbesserung der neuen Sorte und brachte ihr Beeren zum Testen.
    »Ich glaube, sie sind jetzt nahezu vollkommen, Liebste«, sagte Clarice, nachdem wir alle Früchte gekostet hatten. »Sie schmecken fantastisch.«
    »Hab ich auch gerade gedacht«, sagte ich. »In diesem Sommer werde ich Papiere und Tests vorbereiten, um die neue Sorte offiziell anzumelden.«
    Ich hatte immer Edwins Alter im Auge gehabt und mich deshalb sehr beeilt mit meiner Züchtung. Edwin arbeitete nicht mehr auf der Farm und verlor zusehends sein Gedächtnis. Ich hatte ihn stets als meinen Mentor betrachtet, auch bevor ich von unserer Blutsverwandtschaft erfahren hatte, und es tat mir unendlich leid, dass wir das Patent für unsere neue Erdbeerzüchtung nicht mehr gemeinsam anmelden konnten, wie ich es mir erhofft hatte. Doch nun gab es etwas in meinem Leben, das noch weitaus bedrohlicher und bedrückender war als die Vorstellung von Edwins Tod.
    »Ich wünschte bloß, es hätte alles noch ein bisschen länger dauern können«, sagte Clarice und wischte sich einen Tropfen Erdbeersaft von der Lippe.
    »Noch ist nichts zu Ende«, erwiderte ich.
    »Aber bald«, sagte sie.
    Wer auf einer Farm lebt, gewöhnt sich an den Tod.
    Wir hatten manchmal Ziegen verloren – Totgeburten oder Zicklein, die zu schwach waren und nicht überlebten. Hühner, die ausgerissen waren und vom Fuchs geholt wurden. Und Katie, unsere Hündin, die wir unter Fletcher Simpsons Pflaumenbaum begraben hatten.
    Auch die Pflanzen erinnerten fortwährend daran, dass nichts Bestand hat außer dem Kreislauf der Natur. Obwohl ich seit so vielen Jahren mit Pflanzen arbeitete, packte mich im Herbst alljährlich die Wehmut. Die Goldruten blühten, die Tage wurden kürzer und die Nächte kälter. Dann nahte der erste Frost, der immer den Tod mit sich brachte.
    Irgendwann erhielt ich die Nachricht, dass George gestorben war. Und zwar in Form einer Rechnung von einem Bestattungsunternehmen aus Austin in Texas, wo George zuletzt gelebt hatte. Abgesehen davon, dass ich nun die Rechnung bezahlen musste, schien mir dieses Ereignis so fern zu sein, wie George selbst es mein Leben lang für mich gewesen war.
    Doch die Vorstellung von Clarice’ Tod fühlte sich für mich an, als würden die Weltmeere austrocknen, als gäbe es keine Farben mehr auf der Welt. Niemand war mir je näher gewesen als sie. Dass sie sich irgendwann nicht mehr bewegen konnte, war für mich so unvorstellbar wie ein Kolibri mit reglosen Flügeln. Und mich selbst ohne sie konnte ich mir

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