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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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ebenso wenig vorstellen wie den Himmel ohne Sonne.

Ruth
    All diese Jahre
    I n all den Jahren, in denen meine Schwestern und ich heranwuchsen, war mein Vater stolz darauf gewesen, dass die Farm schuldenfrei geblieben war. Sämtliche Planks, in deren Besitz sich die Farm über die Jahrhunderte befunden hatte, waren ohne Hypotheken ausgekommen. Nach einem harten Winter hatte mein Vater sich manchmal fünfhundert Dollar für Samen und Dünger von der Bank borgen müssen. Doch die hatte er sofort zurückbezahlt, wenn er im Frühjahr wieder etwas einnahm.
    Dann kamen der drastische Anstieg der Benzinpreise, die Verbreitung der Supermärkte und der verheerende Brand in der Scheune. Mein Vater nahm einen Kredit auf, weil Victor Patucci ihm eingeredet hatte, man bräuchte ein neues Gewächshaus für Frühtomaten. Doch bei der ersten Ernte wurde klar, dass man die Tomaten wesentlich teurer als die Supermärkte anbieten musste. Dann ließ Esther sich scheiden, und mein Vater lieh ihr Geld, damit sie ihrem Exmann den Anteil des gemeinsamen Hauses auszahlen konnte, das auf unserem Land gebaut worden war.
    Doch vor allem die Krankheit meiner Mutter brach meinem Vater finanziell das Genick. Wir wussten von Anfang an, dass diese Krebsform unheilbar war, aber allein die Kosten für die Palliativbetreuung beliefen sich auf über hunderttausend Dollar, und es stellte sich außerdem heraus, dass mit der Versicherung meiner Mutter etwas nicht stimmte.
    Jim war entsetzt, als er das herausfand, aber da war es schon zu spät, und er konnte auch nichts mehr daran ändern. Mein Vater konnte nur die Hälfte der Krankenhausrechnungen bezahlen und war nun hoch verschuldet.
    2001 geriet die Farm in extreme Bedrängnis. Die Vermögenssteuer war in Kürze fällig, und wir hatten keine Ahnung, wie wir sie bezahlen sollten. Unterdessen rückten die Grundstücksentwickler immer näher.
    »Nur über meine Leiche«, hatte mein Vater bei der letzten Unterredung über die Meadow Wood Corporation gesagt.
    Nur der drohende Verkauf der Farm veranlasste uns schließlich dazu, eine Lösung zu erwägen, die andernfalls undenkbar gewesen wäre: Victor Patucci hatte angeboten, uns die Farm mitsamt Schulden abzukaufen, wenn wir einen Teil der Finanzierung selbst übernehmen würden. Dann gehörte die Farm zwar nicht mehr den Planks, aber sie würde zumindest als Farm erhalten bleiben. Jedenfalls vorerst.
    Meine vier Schwestern drängten darauf, Victors Angebot anzunehmen. Nur ich weigerte mich noch und suchte nach anderen Möglichkeiten, um das Familieneigentum zu bewahren.
    »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, daran musst du dich gewöhnen«, sagte Victor zu mir, als ich meine Meinung zu seinen Plänen äußerte. Er hatte vor, im Maisfeld einen Irrgarten anzulegen. Auf dem Kürbisfeld sollte das Projekt »Bau dir selbst eine Vogelscheuche« steigen, und er wollte zum Großhandelspreis fremde Kürbisse liefern lassen, um das Verkaufspotenzial zu erhöhen. Außerdem sollte es eine Hüpfburg geben, um Kinder anzulocken. »Du lebst nicht mehr mit Mama und Papa im kleinen Haus in der Prärie«, fuhr Victor fort. »Entweder du stellst dich der Zukunft, oder du bleibst außen vor.«
    Zu dieser Zeit schlief ich allerdings nicht nur wegen den Problemen mit der Farm schlecht. Auch meine Ehe hatte sich verändert.
    In den vierundzwanzig Jahren, die Jim und ich verheiratet waren, hatte ich mich meinem Mann innig zugetan gefühlt – ich glaubte auch, ihn zu lieben –, aber ich hatte niemals etwas wie die Leidenschaft und das Verlangen empfunden, das ich als junge Frau ein einziges Mal erlebt hatte. Ich kam mir kindisch und unreif vor, dass ich auch nach meinem fünfzigsten Geburtstag immer noch an Ray Dickerson dachte und mich der kitschigen Vorstellung hingab, dass er mein wahrer Seelenpartner gewesen war, mit dem ich mein Leben verbracht hätte, wenn meine Mutter uns nicht getrennt hätte.
    In all den Jahren unserer Ehe – auch während unserer Bemühungen, ein Kind zu bekommen, der Adoption von Elizabeth und dem unerwarteten Geschenk unseres Sohnes Douglas – war mein Mann mir ein liebevoller und treuer Partner gewesen.
    »Ich finde dich wunderschön«, sagte er mir immer wieder. Wenn wir alleine waren – bei unserer alljährlichen Florida-Reise oder wenn wir ein Wochenende mit Theaterbesuch und schönem Essen im Hotel in Boston verbrachten –, hielt er an seinem hoffnungsvollen, beinahe sehnsüchtigen Werben um mich fest. Zu meinem Geburtstag bekam ich

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