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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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ich Clarice vor. Sie liebte vor allem Jane Austen und die Gedichte von Yeats, aber bei einem meiner seltenen Ausflüge in die Stadt hatte ich Das Tal der Puppen von Jacqueline Susann mitgebracht und las Clarice mit besonderer Dramatik vor. Früher wäre das ihre Rolle gewesen, denn so etwas passte gar nicht zu mir. Doch nun versuchte ich, diesen Part zu übernehmen, und meine Liebe zu Clarice befähigte mich dazu.
    Ich war gerade bei dem Kapitel angelangt, in dem das weltberühmte tablettensüchtige Mannequin mit ihrem Millionär Schluss macht, weil sie sich in einen umwerfenden Anwalt verliebt hat, der auch Vater ihres ungeborenen Kindes ist, obwohl er es nicht weiß.
    Früher hätte Clarice so etwas rasend komisch gefunden und gelacht. Doch jetzt lag sie nur da und seufzte.
    Es wurde immer schwieriger, etwas zu finden, um sie abzulenken. Sie hatte an nichts mehr Interesse – nicht einmal an ihrer geliebten Musik, an Literatur, an ihren Lieblingskunstbänden. Bonnards Frauen in der Badewanne , die erotischen Zeichnungen von Egon Schiele. Ohne Clarice hätte ich all diese Künstler nicht gekannt, doch sie hatte mir ihre Liebe zu ihnen vermittelt.
    Als ich eines dieser Bücher für sie hielt und es mit ihr anschaute, sah ich sie weinen. Sie gab keinen Ton von sich, aber Tränen liefen über ihre Wangen.
    »Genug«, sagte sie.
    »Okay«, erwiderte ich und schlug das Buch zu.
    »Nicht das«, sagte sie. »Genug vom Leben. Ich habe. Genug. Vom Leben.«
    An diesem Abend badete ich sie. Ich wusch ihr mit ihrem besten Shampoo die Haare, das sie nur manchmal benutzte, weil es so teuer war. Jetzt nahm ich eine großzügige Menge, bei der so viel Schaum entstand, dass ihre Haare sich auf dem Kopf auftürmten.
    Dann Spülung. In das Wasser hatte ich Badesalz gegeben, und ich strich mit Bimsstein und Luffahandschuh über ihren Körper.
    Nach dem Bad trocknete ich sie behutsam ab, trug sie zum Bett und rieb sie mit Lotion ein. Dann waren die Nägel dran. Ich präsentierte Clarice sechs Fläschchen Nagellack zur Auswahl.
    »Locken«, sagte sie, nachdem die Nägel lackiert waren.
    »Ich werd mein Bestes tun«, sagte ich.
    Ich fuhr ihr Bett hoch, damit sie aufrecht sitzen konnte, und holte Föhn, Haarklammern, Lockenwickler und die Rundbürste, mit der sie jeden Morgen ihre Haare in Form gebracht hatte.
    »Ich hoffe, sie sitzen heute gut«, sagte sie mit schiefem Lächeln. Das war inzwischen ein langer Satz für sie, und mir war klar, wie schwer er ihr gefallen war.
    Ich hatte schon keine Ahnung von Haarpflege, aber von Make-up verstand ich noch weniger. Dennoch förderte ich nun ihre Lieblingssachen aus ihrem Samttäschchen zutage. Clarice schwor auf teure Kosmetika; ihrer Meinung nach hatte ein Lippenstift für zwanzig Dollar eine vollkommen andere Wirkung als einer aus dem Drogeriemarkt. Ob das nun zutraf oder nicht – edel wirkten die goldfarbenen Puderdosen, Eyeliner mit elegant geschwungenen Pinseln, cremigen Lippenstifte allemal.
    »Der Trick beim Make-up«, hatte Clarice mir einmal erklärt, »besteht darin, ungeschminkt auszusehen, obwohl man in Wirklichkeit dick aufgetragen hat.«
    Ich liebte ihr Gesicht tatsächlich am meisten ungeschminkt, aber weil ich wusste, dass Clarice sich das wünschte – und weil ich es nicht eilig hatte, sondern im Gegenteil hoffte, dieser Abend möge nie enden –, ließ ich mir Zeit und probierte so lange herum, bis ich das Ergebnis perfekt fand.
    Dann betupfte ich ihren Hals und ihre Handgelenke mit Parfum und legte ihr Schmuck an: Mondstein-Ohrringe und das Armband mit all den Anhängern von den Orten, an denen wir gemeinsam gewesen waren – auf den zwei neuesten war ein Büffelkopf und der Old-Faithful-Geysir abgebildet.
    Ich holte ihr Lieblingskleid, ein antikes Spitzenkleid, das sie in einem Laden für historische Kleidung in Portsmouth gefunden hatte, und zog es ihr an. Ballerinas für die Füße.
    Sie wünschte sich Joni Mitchell, Blue .
    »Ich weiß. Das ist. Nicht originell«, sagte sie. »Aber diese Platte. Wird aus gutem Grund. Von allen geliebt.«
    Gegen Mitternacht hatte ich alles vorbereitet und zündete die Kerzen an.
    »Hol sie«, bat Clarice.
    Die Spritze.
    »Vergiss nie«, sagte Clarice. »Du hast. Mich glücklich gemacht.«
    »Mit dir war ich der glücklichste Mensch auf Erden«, erwiderte ich.
    Danach legte ich mich zu ihr und nahm sie in die Arme. Ihr Gesicht war dicht an meinem, und ich lauschte ihrem Atem, der immer langsamer wurde und schließlich verstummte.
    Ich

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