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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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empfand ich keinerlei Eifersucht. Dass ich nicht neidisch war, kann ich nicht behaupten, aber mein Neid hatte nichts mit Jim als Person zu tun.
    Ich beneidete ihn lediglich um den Zustand, verliebt zu sein. Dieses Gefühl schien mir schon zu lange abhandengekommen zu sein.
    Inzwischen hatte ich mein halbes Leben ohne Ray Dickerson zugebracht – und was ich so sehr vermisste, war nicht einmal Ray selbst. Sondern die junge Frau, die ich gewesen war, als ich ihn geliebt hatte. Sie war spurlos verschwunden. Ich vermisste den Blick, mit dem ich damals die Welt betrachtet hatte, die Vielfalt an Möglichkeiten, das Verlangen, die Fähigkeit, Sehnsucht zu empfinden. Einst hatte ich in einem wilden, wunderbaren Land gelebt, das mir nun verschlossen blieb. Hatte eine Sprache gesprochen, die ich nicht mehr beherrschte. Und irgendwo auf dem Planeten wurde eine Musik gespielt, die ich nicht mehr hören konnte.
    Ich dachte an Apollo, der sein Leben ohne Daphne verbringen musste. An Jackie Kennedy, die zusah, wie der vom Sternenbanner bedeckte Sarg ihres Mannes die Treppe des Kapitols hinaufgetragen wurde, als Camelot zusammenbrach. Und ich fragte mich, ob Neil Armstrong sich vielleicht auch manchmal so ausgestoßen fühlte: Er, der einst auf dem Mond spazieren gegangen war, konnte nie wieder dorthin zurückkehren.

Dana
    Das Versprechen
    C larice’ Welt begann sich aufzulösen. Ihre Muskeln ließen sie im Stich, einer nach dem anderen. An einem Tag konnte sie nicht mehr gehen, am nächsten ihre rechte Hand nicht mehr benutzen. Nur noch zwei Finger ihrer linken Hand waren beweglich, bis auch diese beiden blockierten. Wir durchlebten das Gegenteil von Wachstum – ein gnadenlos langsames Sterben.
    Sie konnte noch sprechen, obwohl ihr jede einzelne Silbe schwerfiel. Und sie brachte jetzt das Thema zur Sprache, über das wir im Yellowstone geredet hatten. Sosehr Clarice am Leben hing – wenn sie sich nicht mehr verständigen konnte, wollte sie auch nicht mehr leben.
    »Nicht das Blinzeln«, sagte sie wieder mit ihrer neuen verzögerten Sprechweise. »Geht nicht. Das mit dem Alphabet.«
    Ich sagte, es gäbe Computerprogramme, die sie nutzen könnte. Ich beschäftigte mich gerade mit einem Programm, bei dem man mithilfe von Augenbewegungen allgemeingebräuchliche Sätze auf einer Tafel identifizieren konnte. Doch davon wollte Clarice nichts hören.
    »Du hast mir das Versprechen gegeben«, sagte sie nur.
    Seit ich damals an der Uni in den Ställen gearbeitet hatte, war ich mit Betäubungsmitteln vertraut, und in den letzten Jahren waren mir meine Kenntnisse immer wieder nützlich gewesen – wenn man einem Ziegenbock ein Horn abnehmen musste zum Beispiel. In meinem alten Lehrbuch gab es eine Tabelle, in der die jeweilige Menge des Betäubungsmittels für diverse warmblütige Säugetiere angegeben war; die Dosis richtete sich nach der Größe des Tiers und nach der angestrebten Länge des Betäubungszustands.
    In einem in Rot gedruckten Anhang wurde auf die Gefahren falscher Dosierung hingewiesen, die zu Lähmung, Koma und Tod führen konnten – was jedoch nicht von Schmerzen begleitet sein würde.
    Da ich Nutztierzüchterin war, hatte ich auch Zugang zu diesen Mitteln. Dennoch rang ich mit ihrer Entscheidung und war mir nicht sicher, ob ich zu dem im Stande sein würde, was sie von mir erwartete. Mir hätte es genügt, mit ihr im selben Raum zu sein, solange sie noch atmete. Doch für Clarice wäre dieser Zustand unerträglich gewesen.
    Obwohl ich noch nicht bereit war, ihrem Wunsch nachzukommen, sagte ich mir, dass es klug wäre, regelmäßig Betäubungsmittel zu kaufen.
    Und von diesen Mitteln spritzte ich Clarice jeden Abend eine kleine Dosis.
    Es war Winter, und ich verließ wochenlang kaum das Haus. Es war inzwischen kaum mehr möglich, Clarice in den Wagen zu befördern – sie konnte nicht mehr sitzen und musste mitsamt einem Atemgerät, das die Funktion ihrer Lunge übernahm, auf dem Beifahrersitz festgeschnallt werden. Sie lag jetzt tagsüber in einem Krankenhausbett im Wohnzimmer, weil die Versorgung in dem Messingbett im Obergeschoss zu schwierig geworden war.
    Auch Fernseher und Videorecorder hatte ich dort aufgestellt. Einmal am Tag rieb ich sie mit duftendem Öl ein – eine ihrer letzten verbliebenen Freuden. Ich hatte ihr auch ein Kätzchen mitgebracht, das sich gerne schnurrend auf ihrer Brust einrollte und sie ab und an mit seiner rosa Zunge ableckte.
    Abends, nachdem wir drei oder vier Filme gesehen hatten, las

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