Das Leben Findet Heute Statt
Lebensversprechen den Kopf. Sie halten es für unnormal.
Über 25 Jahre lang habe ich dagegen gehalten: Nein, wir sind ganz normal. Wir sind nichts Besonderes. Und habe aufgezählt, was wir auch alles dürfen – sogar fernsehen! Erst jetzt fällt mir, reichlich spät, wie ich finde, auf, dass ein Ordensbruder ganz unnormal ist. Und nicht nur wegen der Gelübde, sondern allein schon aufgrund der Tatsache, dass er für ein ganzes Leben ein Versprechen abgegeben hat. Das macht ihn zu einem Sonderling.
Es geht ihm damit in Deutschland so wie dem Bäcker, der mit 24 Jahren einen Betrieb leitet und im Prüfungsausschuss der Innung sitzt: Ein solcher Mann bringt seine Altersgenossenzum Staunen – und selbst ich habe ihn bestaunt. Einen, der sich festgelegt und nicht gewartet hat auf bessere Zeiten. Oder die beiden Verliebten, die nach zwei Jahren Freundschaft mit 22 Jahren heiraten wollen. «Ich stell Sie ins Museum», habe ich denen gesagt. «Das, was Sie tun, hat Seltenheitswert!»
Das sind für mich die Vorbilder Deutschlands. Sie warten nicht auf den großen Knall, auf das echteste aller echten Gefühle, auf die größte aller Chancen. Sie lassen sich nieder im Hier und Heute. Weil sie weitsichtig sind und wissen, dass niemand alles haben kann, nehmen sie schlicht jetzt die Gelegenheit in die Hand, des eigenen Glückes Schmied zu werden. Der Bäcker wollte nicht kurzsichtig mal für die nächsten drei, vier Jahre etwas ausprobieren. Die beiden Verliebten wollten sich nicht auf eine Kurzzeitstrecke einlassen. Sie waren sich gegenseitig viel zu wichtig, als dass sie sich nur ausprobieren wollten. Ganz davon abgesehen, zeigt die Erfahrung, dass Langzeitausprobierer fast noch schneller auseinandergehen nach der Heirat als jene, die der Wirklichkeit glaubten, die unter anderem auch Papst Johannes Paul II. ausgesprochen hat: Man kann nicht auf Probe lieben.
Das Ganze der Klosteranlage lädt dazu ein, auch das Leben als ein Ganzes zu sehen. Der Mensch ist nicht ein Puzzle aus lauter Erlebnissen, die man heute hier, morgen dort aufsammelt.
Wir müssen uns von den Bildern frei machen, die uns in Versuchung führen, eine perfekte Zukunft schaffen zu wollen. Die Erfahrung lehrt: Es kommt sowieso anders, als man denkt. Es gibt nicht den kommunistisch gedachten zwangsläufigen Weg ins irdische Paradies – dem so unheilvoll nachgeholfen wurde. Und es gibt auch nicht den kapitalistisch gedachten Weg, auf dem sich der Reichtum von selbst verteilt und deswegen jeder nur für sich selbst zusehen muss, wie er dazu kommt.
Wir brauchen eine Befreiung zum Handeln, das weder auf ein besseres Morgen wartet noch auf ein geheimnisvolles, aber in jedem Fall irgendwie besseres Leben. Der beste Weg dahin: das biblische Bilderverbot. «Du sollst dir kein Bild von Gott machen!», heißt es. Die dringende Ergänzung lautet: «Du sollst dir kein Bild von dir selbst machen!» Und auch nicht von deiner Frau und deinen Kindern …
Wir dürfen uns nicht mehr auf einen Punkt X vertrösten lassen, an dem der ultimative Kick kommen soll, die beste Arbeit, die passendste Partnerin: der Punkt, an dem man erst richtig leben könne. Im Stieren auf ein Bild vom perfekten Leben, das wir uns gottgleich selbst schaffen wollen, kommen wir keinen Schritt mit uns selbst voran. Wir eilen von Enttäuschung zu Enttäuschung. Und warten im größten Glück schon auf das nächste Glück.
«Mensch, werde wesentlich!», meint der Barockdichter Angelus Silesius. Die Klosteranlage, vor der wir hier stehen, will uns Kapuzinern als Niederlassung dienen, damit wir das werden können: wesentlich. Drinnen ist es ruhig. Es herrscht eine Lebensordnung, die wir uns gegeben haben. Im Mittelpunkt unseres Lebens steht nicht das, was wir leisten. Wesentlich ist, was wir geschenkt bekommen: was wir einander geben, was wir von unseren Mitmenschen erhalten. Und was wir von Gott bekommen. Bevor wir nun hineingehen, schauen Sie einen Moment dahin, wo Sie sich niedergelassen haben. Oder wo Ihnen noch nicht wohnlich zumute ist, weil Sie noch auf dem Sprung sind. Versuchen Sie den Weg in das Claustrum Ihres Herzens. Die äußeren Anforderungen dürfen mal außen vor bleiben. Sie lassen zu, was Ihnen eigentlich wichtig ist. Sie kehren bei sich ein und können vielleicht sogar ahnen, dass Sie, recht betrachtet, arm sind wie ein Kapuziner. Ist nicht alles ein Geschenk? Haben wirnicht viel mehr gratis in die Wiege gelegt und mit auf den Lebensweg bekommen, als wir verdient
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