Das Leben Findet Heute Statt
Hier sind Leute, die das Leben anpacken, die dem Suchenden begegnen möchten. Die sich nicht fürchten, dass eine Begegnung ihre Welt verändern kann. Hier. Heute.
Deswegen finden sich bei uns Bettler ein. Wir behandeln sie von Angesicht zu Angesicht wie unsere Brüder. Dass wir dabei auch klug sind und nicht alles geben, was sie von uns erwarten, gehört mit zur Wahrhaftigkeit in der Begegnung. Durch diesen Eingang hier kommt der Sünder zu uns ins Haus, der seineSchuld bekennen will und auf Vergebung hofft für das, was er sich selbst nicht vergeben kann.
Ich habe hier auch schon Zeugen Jehovas begrüßt, die in ihrer unverwechselbaren Unverfrorenheit auch bei uns eine Bekehrung versuchten. Sie machen auch vor unserem Kloster nicht halt mit ihrem peinlichen Geschäft, anderen ihre Meinung aufdrängen zu wollen. Manchmal klingelt auch ein Kind aus der weiteren Nachbarschaft und bittet darum, dass einer von uns mit ihm einkaufen geht: Den Eltern fehlt es am Nötigsten, auch daran, für ihre sechs Kinder den Einkauf für die letzte Woche des Monats zu tätigen. Der Pfarrer des Orts, an dem wir wohnen, findet sich an der Pforte ebenso ein wie der Sprecher einer Initiative unserer Nachbarschaft, die sich für die Regulierung des Durchgangsverkehrs einsetzt, der auch an unserem Haus vorbeibraust. Natürlich kommen auch persönliche Freunde von unseren Brüdern an der Pforte vorbei und hin und wieder auch Eltern, Geschwister oder andere Verwandte.
Fast täglich bitten uns Menschen um Nahrung. Wir halten einen kleinen Raum mit drei Stühlen und einem Tisch für sie bereit. Manche sind echte Durchreisende, die man früher auch mal Handwerksburschen nannte. Die größte Gruppe bilden jedoch verelendete Männer und Frauen, die einfach nicht die Kurve kriegen zu einem neuen Anfang. Was man ihnen auch anbietet, alles prallt an ihnen ab. Wir helfen am besten damit, dass wir ihnen nicht helfen wollen. Damit meine ich: Wir möchten ihnen nicht sagen, wie sie unserer Meinung nach zu handeln hätten. Ich habe vielmehr im Laufe meines Kapuzinerlebens gelernt, sie wirklich als Brüder oder Schwestern zu sehen. Sie nötigen mir Respekt ab. Ich kann nicht auf sie herunterschauen, aber ich stelle sie auch nicht auf ein Podest. Sie leben ihr Leben, so armselig es auch sein mag, offenbar mit Würde. Das lässt michmanchmal staunen. Ich spreche mit ihnen ganz ehrlich. Sie kennen darum mein Entsetzen über ihre Untätigkeit. Ich lasse sie mein Unverständnis spüren. Freundlich, aber bestimmt, kann ich ihnen auch sagen, wenn in mir die typischen Gerüche der Verwahrlosung Ekel aufkommen lassen. Ich käme aber nicht auf die Idee, dann von «Sauberkeit» in Anführungsstrichen zu reden, nach dem Motto: Heute riecht es aber wieder «gut» hier. Damit blockierte ich die Begegnung nur. Mir liegt daran, dass sich in diesen Menschen etwas bewegt. Deshalb lasse ich sie spüren, dass ich auch eine Würde habe. Die will ich in der Begegnung gewahrt wissen. Auch wenn mir die Pflicht obliegt, mich den Armen zuzuwenden: Es gibt umgekehrt auch die Pflicht der Armen, sich mir zuzuwenden. In diesem Fall: mich durch den Geruch nicht zu beleidigen. Zu meiner Pflicht gehört mein Recht. Und zum Recht des Armen gehört auch seine Pflicht dem gegenüber, der auf ihn zugeht.
Ich spreche hier bewusst an der Pforte von den Armen, weil hier der Ort ist, an dem sich alles Herablassende verbietet, durch das sich die Ironie auszeichnet. Die Pforte ist der Ort der Begegnung auf Augenhöhe. Hier gilt das alte Wort aus der Ordensregel des heiligen Benedikt: Man solle in jedem Gast, dem man auftut, Jesus Christus begrüßen. Das ist viel mehr als die Anstandsregel, dass man sich nicht über einen anderen erheben soll. Vielmehr steckt der Hinweis darin, dass Gott in jeden, der sich mir nähert, eine Chance für mich hineingelegt hat.
Noch weiter geht die Aufforderung des heiligen Franziskus an seine Brüder: Man solle besonders froh sein, wenn sich Arme und Verachtete in der Gemeinschaft einfänden. Vermutlich steckt hier seine Erfahrung dahinter, dass man am schnellsten lernt, seine Zunge im Zaum zu halten, wenn man denen nahe ist, über die man gerade noch gelästert hat. Franziskus sagt an andererStelle, wir sollten in Abwesenheit eines anderen über ihn nur das reden, was wir auch in Liebe in seiner Anwesenheit sagen würden. Sosehr man auch im Kloster noch weit davon entfernt ist, sich nie spöttisch über Abwesende das Maul zu zerreißen, so schmerzlich geht
Weitere Kostenlose Bücher