Das Leben Findet Heute Statt
sie ist auf dem besten Weg, Stressfaktor Nummer eins zu werden. Selbst höhere Energiepreise vermögen das Weglaufen vor sich selbst, vor Nachbarn, Arbeitskollegen oder dem Leben daheim nicht aufzuhalten. Ein flüchtiges Ich-bin-dann-mal-eben-weg gerät zur Formel für die neue Selbstvergewisserung, ganz nach dem Motto: «Ich flüchte, also bin ich.»
Anerkennung findet, wer von Reisen zu Zielen in Übersee berichten kann. Dabei zählt weniger das Staunen darüber, dass sich jemand eine solche Reise leisten kann. Selbst große Reisen kosten ja oft weniger als ein Urlaub im eigenen Land. Nein, das Prestige wird gewonnen aus der Bestätigung des Volksklimas, hier und heute sei alles sowieso nicht zum Aushalten. Auch Kurzurlaube in der Schweiz, in Italien, Spanien, Norwegen oder Ungarn, verbunden mit je einem ganzen Tag auf vollen Autobahnen, um gerade mal zwei oder drei Tage vor Ort sein zu können, finden Bewunderung. Wer die negative Ökobilanz eines Volks auf der Flucht anspricht, gilt als Spielverderber. Hauptsache weg. Wofür und wohin, ist egal. Hauptsache unterwegs. Nirgendwo bleiben. Dort nicht. Und schon gar nicht daheim.
Die Folgen sind gravierend: Wir verlieren uns. Wer nämlich ständig auf der Flucht ist, kann nichts mehr richtig erleben. Aus Flucht wird Flüchtigkeit. Masse statt Klasse. «Ganz kurz: Wie geht’s?» heißt die K.-o.-Formel, mit der wir dem anderen so begegnen, dass ja keine Begegnung stattfinden kann. Wirkliches Interesse im Wortsinn ist out: kein gegenseitiger Austausch, kein befruchtendes Gespräch, keine Begegnung, die verwandeln darf und die Gegenwart erfüllt. Nein, wir hetzen lieber voneiner flüchtigen Begegnung zur nächsten. Mit Stolz brüsten wir modernen Nestflüchter uns mit der Anzahl von Kontakten, die wir nicht in einem, nicht in zwei, nein, in drei oder mehr virtuellen Netzwerken unterhalten. Und mancherorts wird dort dann gar von Freunden gesprochen, die man hinzufügen kann, oder von Freundschaft, die man einem anderen vorschlagen kann. Man entblödet sich nicht, von Netzwerken zu sprechen. Doch wer kann schon mehr als drei oder vier Freundschaften wirklich pflegen? 264 Freunde, wie mir einer wichtigtuerisch offenbarte, sind jedenfalls eindeutig zu viel. Und so gut wie keiner ist darunter, der aus der Virtualität heraussteigt in mein Hier und Heute, wenn der Tag gekommen ist, an dem ich wirklich einen Freund bräuchte.
In diesem Sprechzimmer stranden jene, die überall waren, aber nirgendwo angekommen sind. «Wie gut, dass ich hier mal einfach ausruhen kann!», gehört zu den Standardsätzen derer, die es hierhin geschafft haben. Sie haben sich ein Herz genommen und ihrem Leben einen Halt verordnet. Sie wollen auf einen Menschen treffen, der sich und ihnen Zeit für die Begegnung gibt. Und sie wollen üben, ein anderer Mensch zu sein: einer, der leben kann, ohne sich ständig von etwas losmachen zu müssen. Einer, der es aushält, hier und jetzt eine Stunde mit dem anderen in einem Raum zu sein. Einer, der im Hier nicht schon gleich wieder an das Dort denkt. Einer, der ahnt, dass es nicht auf die Masse an Kontakten ankommt, sondern auf die Klasse einer Begegnung.
Wir brauchen solche Zonen, die wir für die Begegnung reservieren. Wie der Termin im Klostersprechzimmer ist der Satz «Ich möchte gern mit dir sprechen!» selten geworden. Und weil er so rar ist, klingt er gleich bedrohlich und bekommt reflexartig die Antwort «Was ist denn los?» oder «Was ist denn passiert?»oder «Was habe ich denn verbrochen?». Auf die Idee, dass wir einander begegnen möchten, weil es eine Freude ist, einfach Zeit füreinander zu haben, kommen wir, wenn überhaupt, nur selten.
Was dem Kloster das Sprechzimmer ist, kann Ihnen für eine bestimmte Zeit Ihre Wohnung werden. Der Wohnzimmertisch, der für den Gast aufgeräumt und geschmückt wird. So viel Zeit ist immer, die Zeitschriften beiseitezuräumen, das Bücherregal zu ordnen, mit dem Staubsauger einmal über den Boden zu fahren und ordentlich zu lüften. Ein kleiner Luxus ist die Blume auf dem Tisch, darunter ein passendes Deckchen. Vermeiden Sie es, Freunde oder Bekannte in Ihrem Chaos willkommen zu heißen.
So wie der Bruder sich auf dem Weg von seiner Zelle zum Sprechzimmer auf das Gespräch einstellt, braucht jede Begegnung ihre Vorbereitungszeit. Und wenn Sie gerade gedacht haben, Sie seien statt in einem Kloster bei Herrn von Knigge gelandet: Ja, viele Umgangsformen haben keinen anderen Sinn, als der Begegnung Zeit zu
Weitere Kostenlose Bücher