Das Leben Findet Heute Statt
einem dann trotzdem fast täglich auf, wie dumm man in manchen Situationen mal wieder geschwätzt hat: immer dann, wenn in den Gebeten von den Schwestern und Brüdern die Rede ist, und zwar nicht ironisch, sondern mit göttlichem Ernst.
Kein Mensch ist vor Gott mehr als ein anderer. Deswegen sehe ich Gott auch so deutlich. Mir ist nämlich klar, dass von uns Menschen keiner über dem anderen steht. Und dass ich mich mit keiner noch so spitzen Zunge dazu anschicken darf, größer sein zu wollen als andere. Statt mir den anderen mit ironischen Bemerkungen vom Leib zu halten, packe ich lieber heute schon die Gelegenheit beim Schopf, meinem Gegenüber, wenn auch nicht alles, so doch einiges von mir zu zeigen. Wo Wahrhaftigkeit aufblitzt, verstummt die Ironie. Wenn mir einer auf mein Grüß-Gott antwortet: «Wenn du ihn siehst!», gebe ich deshalb gern zurück: «Wieso wenn? Ich sehe ihn doch. Hier. Zwischen dir und mir!»
3. Das Sprechzimmer
«Ganz kurz: Wie geht’s?» Oder: Begegnung braucht Zeit
Bei uns fällt man nicht mit der Tür ins Haus. Wir haben Zeit. Und wir geben Ihnen Zeit. Unser Bruder Pförtner hat den Schlüssel dazu. Er empfängt Sie an der Pforte und führt Sie ins Sprechzimmer. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das für mich beim ersten Mal gewesen ist. Ein halbes Jahr vor meinem Abitur. Mit dem Bus war ich über eine Stunde nach Münster in Westfalen gefahren. Nach dem Klingeln wartete ich mit nicht geringem Herzklopfen. Ich kannte den Bruder nicht, mit dem ich telefonisch einen Termin vereinbart hatte. Ich wollte mit ihm über meine Zukunft sprechen, vielleicht auch als Kapuziner. Als mir zunächst einmal «nur» der Pförtner öffnete, war ich geradezu erleichtert. Seine Freundlichkeit stärkte meinen Mut, der mich vor der Pforte fast verlassen hätte. Er begrüßte mich einladend und führte mich ins Sprechzimmer. Ich kann nicht sagen, dass es modern eingerichtet gewesen wäre. Aber irgendwie war mir klar: Hier waren schon viele Menschen vor mir gewesen. Ich bin nicht allein mit meinen Fragen, wie mein Leben weitergehen soll. Der Bruder Pförtner bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich. Er ging, um den Bruder zu holen, mit dem ich den Termin vereinbart hatte. Dann war ich allein. Und ich hatte Zeit. Meine Seele konnte sich ordnen. Sie war nun vorbereitet auf diese Begegnung.
Das Kreuz an der Wand, ein Bild des Ordensgründers, eineZeitschrift mit Berichten über die Arbeit der Brüder: Das Sprechzimmer zeigte mir deutlich, dass ich nicht bei einem einzelnen Menschen eingekehrt war. Wenn ich auch mit einem der Brüder allein reden würde: Hier im Kloster ist es immer so, als spräche man mit der ganzen Gemeinschaft, auch wenn nach seelsorgerlichen Gesprächen natürlich keiner etwas weitererzählt von dem, was er im Sprechzimmer erfahren hat. Aber das gemeinsame Gebet und das brüderliche Zusammensein lässt die Anliegen, die ein einzelner Bruder im Sprechzimmer aufnimmt, sozusagen inkognito immer von allen mitgetragen sein. Darin liegt das Geheimnis dieser Räume im Eingangsbereich des Klosters: Wer sich allein fühlt mit seinen Fragen und Sorgen, erhält hier im Sprechzimmer Zeit für die Seele; ein Mitmensch hat ein offenes Ohr, der mit seinem Leben in der Brüdergemeinschaft ein lebendiger Zeuge der Hoffnung ist, dass ein Leben in Menschengemeinschaft möglich ist.
Diese Hoffnung haben in Deutschland schon viele aufgegeben. «Wissen Sie, man kann heutzutage sowieso keinem mehr trauen!», höre ich oft in diesem Raum. Eine ganze Nation zieht sich in die eigenen vier Wände zurück und wartet auf bessere Zeiten. «Bei mir zu Hause fühle ich mich am sichersten!», ist ein weiterer Satz aus dem Munde derer, denen einerseits zum Weglaufen zumute ist und die sich andererseits doch entscheiden, lieber daheim zu bleiben. Gierig saugen sie Nachrichten von allerlei kriminellen Taten auf. Die sind in Deutschland zwar in der Minderzahl, gewinnen aber regelmäßig den Kampf um den ersten Platz in der Berichterstattung einschlägiger Tagesblätter. Diese sind gerade deshalb so erfolgreich. Deutschland lässt sich tagaus, tagein gern bestätigen, dass «alles» irgendwie schlimm und schlimmer geworden sei. Und enden werde das sowieso «alles» ganz schrecklich.
Was bleibt einem da anderes übrig, als ständig auf der Flucht zu sein. Wir stürzen aus dem Haus, ins Auto und in den Zug. Wir hetzen uns von Termin zu Termin in der Arbeit. Die Freizeit nehmen wir noch gleich mit ins Fluchtgeschehen;
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