Das Leben Findet Heute Statt
Keiner darf hier tun, als sei er der Gastgeber. Keiner darf sich so sehr zum Mittelpunkt machen, dass er am Ende nur noch mit sich selbst zu tun hat.
Der beste Weg dahin ist der regelmäßige Blick über den Tellerrand. In unseren Gemeinschaften lesen wir bei Tisch aus den Texten der Vergangenheit. Wir lassen uns von der Kraft unserer Vorfahren inspirieren. Ihr Vermächtnis ist uns eine Verpflichtung. Die Geschichte ist eine Quelle, die uns immer wieder Motive gibt, nach den Erfordernissen der heutigen Zeit zu suchen. In diesem Sinn könnte sich jeder im Tages- oder Wochenablauf Zeiten der Erinnerung einrichten. Manche haben ein Bild aus den Kindheitstagen an die Zimmerwand gehängt. Es gibt alte Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die einem von der eigenen Herkunft erzählen. Wir sind ja nicht aus dem Himmel auf die Erde gefallen. Je mehr wir uns unserer Herkunft bewusst werden, desto mehr wissen wir auch, dass wir so, wie wir heute leben, die Gegenwart prägen. Darum ist die Bewährung im Augenblickso wichtig. Die Welt wird weniger durch große Ideen verändert, sondern mehr durch einfache, aber entschiedene Taten. Globales Denken fängt vor der eigenen Haustür an. Niemand ist so klein, dass er nicht schon heute anfangen könnte, umzudenken. Jeden Tag. Bis zum Tod.
Der Tod greift ungefragt ins Leben ein. An den Tod braucht keiner zu glauben. Er ist eine Tatsache, die wir allerdings persönlich ausblenden können. Die Evolution ist da gnädig mit uns gewesen, könnte man mit einem leichten Augenzwinkern sagen: Wir sollten nicht denken, dass wir einmal nicht da waren und dass wir einmal nicht mehr da sein werden. Die Gewissheit des Todes ist die Gewissheit, dass das Aufschieben guter Ideen, guter Taten oder guter Worte nicht unendlich geht. Die Grenze des Todes wird gezogen werden. Die Zukunft für den Einzelnen steht schon fest. Es wäre gut, wenn wir uns im Tod als würdige Gäste auf Erden erwiesen hätten. Und ein guter Gast weiß Gastfreundschaft zu schätzen, kümmert sich um den Gastgeber und respektiert die Grenzen, die im Haus vom Eigentümer gezogen werden. Seine Gegenwart ermöglicht es, gelassen jeden Tag neu anzupacken. Man muss sich nicht um alles kümmern. Es wird für einen gesorgt.
Den Tod haben die Kapuziner deswegen als Bruder sehr lieb gewonnen. Auf den Uhren steht die Erinnerung: Una ultima. Eine Stunde wird die letzte sein. Das Leben ist viel zu kurz, um lange zu zögern mit den notwendigen Schritten. Das Carpe Diem – das Nutze den Tag – der alten Römer ist aktueller denn je!
Im Kapuzinerkloster an der Via Veneto in Rom wird das den Besuchern drastisch vor Augen geführt. Wenn man von der Villa Borghese die Prachstraße hinuntergegangen ist, vorbei an den Boutiquen, die ihre teuren Waren präsentieren, lohnt sich ein Besuch in der Gruft der Brüder, in die man jahrhundertelang diesterblichen Überreste dieser Männer zur Beisetzung getragen hat. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde sie zum Gebets- und Meditationsort der Kapuziner. Sie stiegen jeden Abend vor der Nachtruhe hinunter, um mit den Knochen der verstorbenen Brüder die Wände kunstvoll mit Leuchtern und Mosaiken zu schmücken. Wenn man heute am Ende eines schmalen Gangs am letzten Grabfeld angekommen ist, heißt es auf einer Tafel: Was ihr seid, sind wir gewesen. Was wir sind, das werdet ihr sein.
Man kann das gruselig finden. Mich motiviert dieser offensive Umgang mit dem Ende meines Lebens. Wenn jeder Tag der letzte sein könnte, ergreife ich heute die Chance, die sich mir bietet. Das Leben ist viel zu kurz, um lange unglücklich zu sein. Mir gefällt der Kontakt zu allen, die mit mir Gast auf Erden sind. Eine brüderliche Kritik ist ein schöner Hinweis, morgen die Gleise vielleicht ein wenig anders zu stellen. Wichtig ist aber, was heute geschieht.
Auf den Berufsinformationsmessen preisen Berater Software an, mit denen die Jugendlichen ihre Karriere planen sollen. In Werbetexten dazu heißt es: «Bei der Karriereplanung stehen Ihre individuellen Neigungen und Präferenzen im Mittelpunkt. Sie werden mit den Anforderungen der in absehbarer Zeit frei werdenden Stelle abgeglichen und fließen so in die Laufbahnplanung ein.»
Am liebsten würde ich auf eines der schicken Notebooks ein Kästchen stellen und den jungen Menschen sagen: «Ich weiß schon, wo Ihre Laufbahn enden wird!», und es dann öffnen: Zu sehen wäre ein Totenschädel. Vielleicht braucht es solche Schocktherapien, damit wir wieder begreifen, dass wir
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