Das Leben Findet Heute Statt
die schlimmste aller Torturen erleiden müssen: Es ist schwer, von den Angehörigen immer wieder bedeutet zu bekommen, dass man sich nicht so anstellen solle; mit einem bisschen gutem Willen könne man doch wohl normal sein. Man sehe doch ganz gesund aus.
Das schreckliche Schlagwort «Hauptsache gesund» ist ein Schlag ins Gesicht aller, die krank sind. Wer so redet, suggeriert nichts weniger, als dass es einen Vorrang der guten körperlichen Verfassung vor der menschlichen Person gäbe. Wenn dein Körper nicht gesund ist, bist du mir nichts mehr wert. Pass also auf,dass du gesund bleibst; nur dann kann ich dich annehmen. Oder: Ich muss aufpassen, dass ich gesund bleibe. Nur dann kann ich sicher sein, dass ich in dieser Gesellschaft geachtet werde.
Je öfter ich diesen Wunsch höre, desto unheimlicher wird er mir. Er hat auch etwas mit der schon beschriebenen Körperfeindlichkeit zu tun. Unsere Organe und alles, was uns im Leib ausmacht, werden beschworen. Sie sind uns so suspekt geworden, dass wir uns selbst nicht mehr sicher fühlen in unserem Körper. Sie könnten ja, ehe wir uns versehen, ausfallen. Dann werden wir nie erreichen, wohin wir kommen wollten. Dem kranken Körper fühlen wir uns nur noch ausgeliefert. Als sei er alles, was wir sind. Dabei ist er doch unser Gefährte. Er ermöglicht es uns, heute da zu sein und mit dem Leben endlich anzufangen, weil wir nur diesen Körper, mit diesem Geist und dieser Seele haben. Aber es wäre schöner, wenn es anders wäre. So meinen nicht nur jene, die immer darauf warten, dass der eigentliche Moment des schönen Lebens noch ausstehe. Wir müssen auch schon damit rechnen, dass andere uns ihre schöne neue Welt, in die sie uns hineinbewegen wollen, aufdrücken. Und uns vor dem Unheil bewahren wollen, die Herausforderung anzunehmen, die das Leben heute an uns stellt.
«Gebt der Frau besser ein anderes Baby!», rief ein Kinderarzt nach der Untersuchung der Krankenschwester zu, die ihn zu einem Neugeborenen geführt hatte, das mit einer schweren vorgeburtlichen Erkrankung zur Welt gekommen war. Eine Mutter von drei behinderten Söhnen beklagte sich im Kreis der Eltern von Sorgenkindern, sie würde sehr oft bedauert werden. Die Leute sagten ihr: «Ach, wie schrecklich. Gleich drei behinderte Kinder!» – «Dabei», so bezeugte sie, «haben wir durch unsere drei sehr viel vom Leben gelernt. Und wir entdecken immer wieder Neues. Vor allen Dingen schätzen wir es, dass wir ganz aufmerksamden aktuellen Tag erleben. Wir haben es völlig verlernt, uns vorzustellen, was wir in der Zukunft alles erreichen wollen.»
Meine persönliche erste Begegnung mit Kranken fand während des sozialen Dienstes statt, den ich als Jugendlicher im Krankenhaus meiner Heimatstadt absolvierte. Ich wollte den Kranken vor allen Dingen helfen. Ich kann mich aber auch gut an das Gefühl der Erhabenheit erinnern, das mich überkam, als ich zum ersten Mal weiße Dienstkleidung tragen durfte: ein kleiner Halbgott in Weiß! Heute schäme ich mich dafür. Die erste Begegnung mit Kranken, die mich lehrte, dass sie mir viel voraushaben und ich von ihnen lernen kann, hatte ich dann mit 18 Jahren. Auf einer Blindenwallfahrt nach Lourdes sagte mir der damalige Präsident des Deutschen Blindenverbandes, zu ihm komme jede Woche jemand, der sein Augenlicht verloren habe. Allen sage er, es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie erschössen sich, oder sie nähmen dieses Schicksal an. Diese Radikalität hat mich ziemlich geschockt. Aber es gibt tatsächlich keine Alternative: Entweder wir akzeptieren, dass wir krank sind oder es werden können. Dann fangen wir heute an, damit zu leben. Oder wir werden ein Leben lang herummaulen an unserer Existenz, weil es so schön wäre, wenn wir nicht krank würden oder nicht krank wären. Wir vergessen, unser Leben in die Hand zu nehmen, weil wir uns bei dem Gedanken aufhalten, was wir alles machen könnten, wenn wir eben nicht krank wären oder nie krank werden könnten.
In einer solchen Atmosphäre ist es schlecht, funktionseingeschränkt zu sein. Als Krankenhausseelsorger habe ich gelernt: Gesund ist jeder, der krank sein kann. Und krank kann man nur dann richtig sein, wenn man als Kranker bejaht wird. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Weil sie Angst haben, ihnen könne gekündigt werden, schleppensich viel zu viele krank an den Arbeitsplatz. Sie vertrösten sich damit, dass sie Anerkennung bekommen werden, weil sie sich ja opfern. Ob sie die dann erhalten, ist
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