Das Leben Findet Heute Statt
darum kümmern.» Falls jemand kritisiert wird und eine Stellungnahme von ihm mit den Worten «Ich finde, Sie haben sich hier nicht richtig verhalten! Können Sie mir das mal bitte schön erklären!», verlangt wird, ist eine Bemerkung wie: «Wenn es für Sie nicht okay war, nehme ich das gern an. Aus meiner Sicht war das richtig!», eher unpassend.
Gerade hier, beim Haltepunkt «Gästezimmer», erinnere ich mich an Menschen, die zu uns kamen, weil sie müde geworden waren, immer selbst sagen zu müssen, was für sie richtig sei. Sie wollen endlich finden, was wirklich korrekt und damit Richtschnur ist. Sie sind müde geworden, selbst bestimmen zu müssen, was ihnen guttut. Sie möchten entdecken, auf was sie selbst nicht kommen. Sie sind erstarrt in ihrer Welt, in der sie alles haben und sich doch so leer fühlen. Sie möchten Gäste im Kloster sein: bei Männern, die offensichtlich einem Anspruch genügen, der eine Freiheit schenkt, die wirklich neue Perspektiven bereitet. Das Kind, das in der Blütezeit der antiautoritären Erziehungsstile im Kinderladen fragte: «Muss ich schon wieder spielen, was ich will?», ist groß geworden. Jetzt fragt der Erwachsene: «Muss ich schon wieder denken, was ich will?» Und weil es nie sicher ist, ob es auch stimmt, was man denkt, und weil jeder, den man fragt, sagt, es sei seine Sache, rennen alle in ihrer eigenen Welt hin und her und suchen und suchen und drehen sich dabei oft im Kreis. Vielleicht ist das Markenzeichen der Zeitgenossen, ihre ständige Bewegung, nur Ausdruck ihrer inneren Wahrheit: Sie rennen. Ja. Aber im Hamsterrad.
In einem der wenigen Briefe, die wir von Franziskus von Assisi noch haben, schreibt er seinem Freund und Bruder nacheinem Gespräch wohl über die Gemeinschaft, in der Bruder Leo mit einigen Brüdern lebt, einige Zeilen, die unsere Haltung bestimmen, wenn wir Gäste aufnehmen: «Bruder Leo, dein Bruder Franziskus wünscht dir Heil und Frieden. So sage ich dir, mein Sohn, wie eine Mutter, weil ich alle Worte, die wir auf dem Wege gesprochen haben, kurz in diesem Wort unterbringe, und rate dir: Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn, zu gefallen und seinen Fußspuren und seiner Armut zu folgen, so tu es mit dem Segen Gottes, des Herrn, und mit dem Gehorsam gegen mich. Und wenn es dir notwendig ist, um deiner Seele oder deines sonstigen Trostes willen zu mir zu kommen, und wenn du zu mir kommen willst, Leo, so komm.»
Die zärtliche Zuwendung, die aus diesen Zeilen spricht, ist die Grundlage für eine klare Weisung: Es gibt den Anspruch und Maßstab des Evangeliums vom armen Jesus. Dorthin soll sich Leo mit seiner Gemeinschaft entwickeln. Und es gibt die offene Tür zu Franziskus hin, der sich in diesen Zeilen bereit erklärt, auch weiter die Suche der Seele von Bruder Leo nach der rechten Umsetzung des Nachfolgeauftrags zu begleiten. Franziskus bewegt sich in seiner Kommunikation immer in dem Dreieck: Franziskus – Gottes Anspruch – Bruder. Für ihn ist es klar, dass jeder Mensch eine Berufung hat, der er zu entsprechen hat. Sie zu entdecken macht das Leben spannend. Denn auch nachdem man Grundentscheidungen getroffen hat, ergeben sich im Heute immer neue Situationen, die einen neuen Anspruch an mich richten und auf der Grundlage vorheriger Entscheidungen viele kleine, neue Entscheidungen fordern. Das brüderliche Band in der Gemeinschaft gibt die Kraft, sich nicht vor dem Heute zu fürchten. Leben heißt ja nicht, alles so zu machen, wie es bisher gemacht wurde. Leben ist auch nicht der ständige Versuch, die Welt dem Entwurf ähnlich zu gestalten, den man sich von ihr gemachthat. Leben ist eher das Gespräch mit Menschen, die einen ohne Hintergedanken annehmen als Schwester und Bruder. Mit ihnen nehme ich Freud und Leid auf dem Weg in Empfang, wissend, dass mich mein Leben zu einem Ziel führt, das mir noch nicht enthüllt ist.
«Wir sind nur Gast auf Erden/Und wandern ohne Ruh/Mit mancherlei Beschwerden/Der ewigen Heimat zu.» Diese Zeilen aus einem beliebten christlichen Lied bringen es auf den Punkt: Hier ist nirgendwo ein Bleiben möglich. Genauso wenig ist irgendwo hier ein Leben, das absolut in Ordnung ist. Wir haben uns nicht selbst erfunden. Wir müssen uns nicht selbst erfinden. Wir sind auch nicht die Besitzer dieser Welt und nicht die Besitzer unseres Lebens. Der Chromosomensatz ist kein Ausweis für unsere Berechtigung, im Welthaus zu aasen wie die Geier. Wir sind nur Gast auf Erden.
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