Das Leben Findet Heute Statt
das tat, hat er in eine eigene Persönlichkeitstheorie einfließen lassen. Er bezeichnete sie als explizit «personenzentriert». Nach Deutschland kam dieses Konstrukt durch Reinhard Tausch, der sie für unseren Sprachraum weiterentwickelte.
Rogers ging davon aus, dass eine wirksame Beratung eine eindeutig strukturierte Beziehung brauche, die dem Klienten gewähre, alle Gefühle und Gedanken auszudrücken. So kann er zu einem Verständnis seiner selbst in einem Ausmaß gelangen, das ihn befähigt, aufgrund dieser erweiterten Orientierung positive Schritte zu unternehmen.
Der Therapeut spricht in der Begegnung mit seinem Klienten Gefühle an, die unterschwellig auftauchen. Er tritt ihnen mit positiver Wertschätzung und emotionaler Wärme entgegen, verhält sich echt und ungekünstelt. Er ist davon überzeugt, dass der Klient fähig ist, sich in konstruktiver Weise zu entwickeln. Es geht darum, Bedingungen herzustellen, die dieses Entwicklungspotenzial aktivieren. Dafür ist eine psychotherapeutische Situation gut geeignet. Eine Stunde lang begegnen sich Therapeut und Klient als Personen, die einander akzeptieren und sich gegenseitig in das Problem einfühlen. Da darf alles sein. Da darf alles ausgesprochen werden. Da darf jedes Thema angesprochen und jedes Gefühl ausgedrückt werden.
Die systematische Verwirklichung dieser Therapiesituation setzt nach Rogers einen therapeutischen Prozess in Gang. Dem Klienten werden zunehmend Gefühle und Erfahrungen bewusst, die ihm in der Vergangenheit nicht zugänglich waren oder die er nur verzerrt wahrnehmen konnte, da er sie nicht mit seiner Vorstellung über sich selbst in Einklang bringen konnte. Ziel der klientenzentrierten Psychotherapie oder Beratung ist es, diesen inneren Konflikt, an dem der Klient leidet, aufzulösen. Er wird schrittweise dahin geführt, Gefühle und Erfahrungen als seine eigenen zu erleben. Er wird fähig, statt Bewertungen von außen zu erleiden, sich selbst als Ort seiner eigenen Bewertung anzunehmen.
Das alles geschieht in speziellen Therapiestunden. Rogers betont, dass die therapeutische Beziehung nicht die Veränderung vorbereitet, sondern selbst Veränderung sei. Ein entscheidendes Kennzeichen des personenzentrierten Ansatzes ist, dass der Klient wahrzunehmen lernt, was ihn bestimmt, um zu entscheiden, ob er sich davon wirklich bestimmen lassen will.
In dieser Therapieform kommen dann Sätze vor, die dortauch sinnvoll sind: Wie ist das für dich? Oder: Versuch einmal zu sagen: Für mich ist das jetzt grün. Auch wenn der Klient etwas Rotes sieht, darf er im Rahmen der Übung sagen: Für mich ist das grün. Der Therapeut wiederum ist gehalten, ihm nicht zu widersprechen, sondern eher etwas zu äußern wie: Aha, für dich ist es grün. Mittlerweile ist es wissenschaftlich belegt, dass solche Trainingsstunden dazu führen, dass Menschen deutlicher wahrnehmen, warum sie etwas Rotes für grün halten. Manchmal entscheiden sie sich dann, die Herrschaft der eigenen Perspektive abzuschütteln und den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie uns in den ersten Kursen, die ich selbst belegt hatte, um mich in dieser Weise weiterzuentwickeln, die Therapeuten gewarnt haben: Bitte nichts in den Alltag übertragen. Dort geht es nicht darum, ständig einander zu sagen, wie man es selbst sieht. Dort muss man weiterkommen und zu der Wahrheit vordringen, wie die Dinge nun wirklich stehen. Diese Warnung habe ich mir gut gemerkt. Im wirklichen Leben ist nicht alles eitel Sonnenschein wie auf der therapeutischen Spielwiese, für die übrigens ein nicht geringes Eintrittsgeld zu zahlen ist. Ich habe kein Recht darauf, dass mich alle unentwegt bestätigen. Beispielsweise mit «Hmm, wenn das so ist für dich!». Oder: «Ich sehe es zwar anders, aber wenn du es so siehst: Das kann ich auch so stehenlassen!»
Was sich so tolerant anhört, ist nichts anderes als der soziale Tod. Wir kommen keinen Schritt weiter, wenn wir einander nur noch sagen, was wir vom anderen verstanden haben. So wichtig es auch ist, sein Anliegen zu verstehen, so sehr braucht er mich auch als Gegenüber, an dem er bemessen kann, ob er Recht hat, ob er der Wahrheit nahe ist, ob wirklich das Sache ist, was er für Sache hält.
Wenn es um rein sachlichen Informationsaustausch geht, darfdie Frage: «Ist es nicht wichtig, dem Klimaschutz mehr Vorrang zu geben?», nicht abgeschmettert werden mit der Totschlagentgegnung: «Wenn das für Sie nötig ist, können Sie sich ja
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