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Das Leben Findet Heute Statt

Das Leben Findet Heute Statt

Titel: Das Leben Findet Heute Statt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruder Paulus Terwitte
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höchst zweifelhaft. Gewisser ist, dass sie sich selbst langfristig schaden, wenn sie nicht heute etwas unternehmen, was nur heute gemacht werden kann. Hier gilt besonders der vielzitierte Satz von Michail Gorbatschow: Wer zu spät kommt – in diesem Fall zum Arzt   –, den bestraft das Leben. Mit dem schleichenden, früheren Tod. «Tut also was fürs Leben!», sagt der Tod.
    Würden wir uns nicht damit trösten, dass wir bestimmt nicht so krank werden können, reagierten wir viel aufmerksamer auf die Signale unseres Körpers. Stattdessen gehen wir davon aus, dass er zu funktionieren hat. Wir muten ihm allerlei zu und biegen ihn auf Ideale hin, die eigentlich gar nichts mit uns zu tun haben. Davon war ja schon die Rede.
    Aber sprechen wir lieber wieder von denen, die krank geworden sind. Es fehlt in unserer Gesellschaft eine Kultur des Krankseins. Das einzige Fernsehen, das es hier im Kloster-Krankenzimmer gibt, ist das Fenster zur Kirche. Die Seele braucht Orientierung zu ihrem Ursprung, Stille und Einkehr, wenn sie den Körper unterstützen soll. Sie braucht echte Begegnungen mit ehrlichen Menschen. Ich habe noch keinen Krankenbesuch gemacht, der länger als zehn Minuten dauerte. Auch die eigene Erfahrung als Kranker lehrte mich, dass es nicht auf die Länge der Zeit ankommt, die ein Besucher bei mir verbringt, sondern auf die Wahrhaftigkeit und Aufmerksamkeit, die er mir für einen Moment schenkt.
    Die Seele benötigt Zeit, die neue Situation zu erfassen. Wer krank wird, wechselt seine Rolle. Plötzlich bin ich bedürftig, ich werde nie mehr der aktive Wanderer sein oder nie mehr der eifrige Stimmungsmacher. Das macht mich traurig. Das regt aberauch meine Phantasie an, welche anderen Fähigkeiten, die vielleicht in mir schlummern, jetzt geweckt werden könnten. Freude und Leiden in der Krankheit sind wie zwei Flügel, die den Kranken zu einer neuen Auffassung von sich selbst tragen. Tag für Tag wollen sie angenommen sein als wertvolle Phasen zur ganzheitlichen Genesung. Die Tränen brauchen aufmerksame und geduldige Mitmenschen, die sie nicht gleich wegwischen. Die Seele atmet auch durch den Tränenkanal, wenn der Körper mit einer Krankheit kämpft.
    Für all die Hochs und Tiefs braucht der Kranke den Raum der Bejahung. Ein Kranker wird umso leichter den Weg durch seine Krankheit gehen, je intensiver ihn die Zusage begleitet, dass er wertvoll ist, auch und gerade wenn er das nicht leistet, was andere sonst von ihm gewohnt sind. Seine Kraft zu lieben etwa hängt nicht von den Blutwerten ab. Seine Art und Weise, die Familie zusammenzuhalten, geht auch im Rollstuhl nicht verloren.
    Damit wir wieder in Frieden krank sein können, müssen wir in unserer Gesellschaft unser Bild vom «richtigen» Leben eines Menschen ändern. Wer krank ist, soll nicht mehr denken, dass bei ihm etwas falsch läuft. Der Normalfall ist nicht die Gesundheit. Der Normalfall ist der Mensch, der auch krank werden kann. Ein Krankenhaus kann nicht, wie es im Sozialgesetzbuch hoffnungsvoll heißt, ein Ort zur Wiederherstellung der Gesundheit sein: Niemand kann ganz wiederhergestellt werden. Es bleiben Narben am Körper. Es bleibt der seelische Eindruck einer Zeit am Menschen haften, in der man plötzlich wieder zurückgeworfen wurde auf das, was wirklich wichtig ist. Und außerdem: Am meisten wird in Deutschland im Krankenhaus gestorben.
    Kranke sind uns eher lästig. Wir wollen ja immer größer, besser, weiter, vernetzter und internationaler werden. Da istLeistung gefragt. Nicht nur körperlich. Auch seelisch. Niemand interessiert sich für die Kranken. Und niemand interessiert sich für jene, die sie betreuen. Langsam erst sickert das Bewusstsein durch, dass nicht nur Mutterschutz wichtig ist, sondern auch Angehörigenschutz: Kranke würden viel schneller genesen, wenn ihnen die engsten Angehörigen beistehen könnten. Man braucht nur nach Italien zu fahren; da bringt die Familie das Essen an das Bett im Krankenhaus. Wenn jemand aus dem Nahen Osten bei uns im Krankenhaus liegt, ist das ähnlich: Die Krankenzimmer sind von Besuchern oft sogar überfüllt. Man steht im wahrsten Sinne des Wortes zu den Betroffenen. Afrikanische und indonesische Krankenhäuser rechnen stets mit der Unterstützung der Angehörigen. Unglaublich für uns: Wenn dort einer krank wird, steht das Leben der ganzen Familie still. Dort gehört Krankheit ganz natürlich zum Leben. Wenn sie heute auftaucht, wird heute damit gelebt. Also lässt man alles stehen und liegen

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