Das Leben in 38 Tagen
Felsen vorbei, die
Pasos de Roldán genannt werden. Der Sage nach soll die Länge dieser Steine der
Schrittlänge des Riesen Roland entsprochen haben. Was doch Sagen und Gerüchte
aus einem einfachen Menschen machen können! Am heutigen Tag hätten uns die
langen Schritte gerade bei dem Schlamm schon sehr geholfen, aber unsere Füße
wurden nun mal nicht größer und die Beine blieben so kurz wie die Schritte.
Später
trafen wir auf zwei junge Japaner, die vor einer Grabstätte am Wegrand standen.
Hier war ein Landsmann von ihnen vor einigen Jahren verunglückt. Man sieht
immer mal wieder ein Kreuz am Wegrand, das an einen toten Pilger erinnert, und
jedes Mal wird man ehrfürchtig und still. Welche Motivation mag ein Japaner
wohl haben, den weiten Weg bis Europa auf sich zu nehmen, um dann irgendeinen
Fehler zu machen, durch den er sein Leben verliert? Hatte er sich nicht genug
vorbereitet oder war es nur ein Unglücksfall, der ihm zu Hause hätte genauso
passieren können?
Wir
wussten es nicht und die beiden Japaner konnten uns auch keine Antwort geben.
Still
stapften wir weiter, bis ich merkte, dass Martin mir nicht mehr folgte. Als ich
am Erro-Pass ankam, der auch noch auf 800 Metern Höhe liegt, wartete ich auf
ihn. Hier gab eine große Waldlichtung einen herrlichen Blick auf die
umliegenden Bergwälder und tiefen Täler frei.
Mir
wurde bewusst, dass uns an diesem Tag noch ein deutlicher Abstieg bevorstand,
denn unser heutiges Etappenziel Zubiri lag nur noch 500 Meter hoch, und das bei
dem weichen Boden!
Ich
genoss erst einmal die Aussicht und fragte mich, wo mein Begleiter geblieben
war. Einige andere Pilger kamen in der Zwischenzeit vorbei und ich stärkte mich
an den obligatorischen Bananen, die den Muskeln Magnesium geben sollten, an
Gummibärchen und Schokonüssen und natürlich Wasser. Wasser war das Wichtigste
auf dem Weg, und da man uns versicherte, dass man alles trinken konnte, was aus
den Quellen und Brunnen floss, wenn es nicht ausdrücklich als verboten
gekennzeichnet war, nutzten wir jede Gelegenheit, unsere Vorräte aufzufüllen.
Und das Wasser schmeckte eigentlich immer sehr gut, besonders wenn es frisch
war.
Nach
einer Weile kam endlich mein Sohn aus dem Wald geschlichen. Er, der gestern immer
nur vornweg gelaufen war, von dem ich bisher meistens nur die Rückansicht
gesehen hatte, schwächelte er etwa? Ich zeigte ihm die herrliche Aussicht, wo
gerade der Regen von vorhin als dampfende hellgraue Nebelschwaden die dunklen
Berge vor uns schmückte. Hatten wir nach der ersten Passüberquerung in den
Pyrenäen nicht wieder ein Riesenglück mit dem Wetter auch bei unserer zweiten
Passüberquerung?
Erstaunlicherweise
fühlte ich mich heute besser als gestern, während Martin über Schmerzen im
rechten Knöchel klagte. Wahrscheinlich war es Überanstrengung. Nach einer
kleinen Arnicabehandlung und einer kurzen Rast wagten
wir uns an den letzten Teil der heutigen Strecke.
Dabei
kamen wir an einer alten, halb verfallenen Pilgerherberge vorbei, die einsam am
Waldrand stand. Zuletzt war sie als Kuhstall genutzt worden und heute sahen uns
nur noch die leeren Fensteraugen an. Früher hatte man wohl einen herrlichen
Blick von hier hinab in das Tal gehabt und wir hätten unser Tagesziel schon
erreicht. Aber wir hätten nicht zu jener Zeit leben wollen, als die Pilger hier
noch ein und aus gingen, denn sie hatten es mit Sicherheit schwerer gehabt als
wir, sei es mit der Bekleidung, mit der Versorgung und vor allem mit der
Sicherheit. Heute braucht wohl zum Glück kein Pilger mehr wirkliche Angst vor
Überfällen oder Angriffen zu haben, weder durch Menschen noch durch Tiere.
Nun
kam der härteste Teil des heutigen Tages und es ging teilweise sehr steil
bergab. Es wurde immer rutschiger und schlammiger und man fand kaum etwas zum Festhalten.
Martin hatte keine Stöcke und litt unter Schmerzen im Fuß. Ihm fiel es schwerer
als mir, aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Erst am Abend gab er zu,
dass er sich das Laufen einfacher vorgestellt hatte, und das machte mich auch
ein bisschen stolz.
Tiefe
Freude erfüllte mich, als wir endlich das Dorf unter uns sahen. Wir
mobilisierten unsere letzten Kräfte und überholten plötzlich eine Menge Pilger,
unter anderem die Franzosen mit ihren Tagesrucksäckchen und ein älteres Ehepaar
aus Bayern, das ich bis Santiago immer wieder treffen sollte. Ich fing sogar
an, zu singen und den Juhu-Ruf mit den dazugehörigen Armbewegungen zu üben, den
mir Martin
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