Das Leben in 38 Tagen
für LKW-Fahrer heraus. Unschlüssig standen die beiden Südamerikaner
davor und auch ich überlegte ob ich dort übernachten sollte. Ich war zwar erst
etwas mehr als zwanzig Kilometer gelaufen, aber weitere fünf Kilometer bis zum
nächsten Ort wollte ich heute nicht mehr gehen. In der Hoffnung, dass die
Herberge nicht mehr allzu weit entfernt war, trabte ich entschlossen weiter und
das Ehepaar folgte mir in einiger Entfernung.
Die
Strecke zog sich dann aber bestimmt noch fast zwei Kilometer hin, ehe der Ort
wirklich begann. Ein endlos erscheinendes und viel eher zu einer Stadt
passendes Industriegebiet war dem Dorf vorgelagert und mein Camino genannter
Feldweg führte geradewegs daran vorbei. Vielleicht hätte ich in Virgen del
Camino doch lieber auf die Ausweichstrecke abbiegen sollen! Nun hatte ich aber
endgültig die Nase voll von den langweiligen Industriegebieten, in denen jeder
Schritt doppelt so lang erschien wie auf den anderen Wegen. Dies entsprach nun
wieder genau dem Vergleich mit dem Leben, denn um wie viel schneller vergeht
ein ereignisreicher Tag gegenüber einem langweiligen Tag! Und doch hat jeder
Tag nur 24 Stunden und keine Sekunde mehr, gleichgültig, was passiert und was
wir wünschen...
Ich
hoffte nun doppelt auf die schöne Landschaft der Leóner Berge, die in der Ferne schon winkten. Spätestens übermorgen würde ich sie
erreichen, wenn nichts Unvorhergesehenes passieren würde.
Zum
Glück brauchte ich heute nicht mehr durch den ganzen Ort zu laufen, denn die
Herberge befand sich gleich am Ortseingang, direkt an der Hauptstraße. Wieder
einmal war eine alte Schule als Unterkunft für die Pilger hergerichtet worden
und damit hatte ich ja bis jetzt keine schlechten Erfahrungen gemacht. Diese
alten Schulen waren fast immer nur eingeschossig, hatten riesige
Sprossenfenster und bestanden aus zwei bis drei großen Räumen, von denen meist
einer zu einer Küche mit Aufenthaltsraum umgebaut worden war. Die Überraschung
stellten diesmal die Betten dar, denn sie waren jeweils zweimal dreistöckig in
kleinen, offenen Kabinen untergebracht. Hier wollte ich nicht so gern schlafen,
weil ich nachts mindestens einmal auf die Toilette musste, und tatsächlich
hatte ich, ohne etwas zu sagen, wieder Glück!
Ein
netter älterer Spanier namens Andreas hatte mich schon an der Tür empfangen. Er
war ein ehemaliger Lehrer, der sich wahrscheinlich genau so ,
wie er sich früher für die Schüler eingesetzt hatte, heute für die Pilger
verantwortlich fühlte. Ohne viel zu reden führte er mich sehr freundlich an den
vielen Dreifachbetten vorbei bis zum äußersten Ende des großen Raumes. Hier
standen vier einfache Liegen nebeneinander mit dem Rücken zu den übrigen Betten
und mit dem Gesicht zu den großen rundum verlaufenden Fenstern. Genau das
Richtige für mich! Woher hatte Andreas das wohl gewusst?
Ich
fühlte mich jedenfalls gleich wie zu Hause; eine Schule, ein Lehrer! War es
das?
Alles
erinnerte mich an meine Kindheit, an meinen Vater, an — wie er scherzhaft
genannt wurde - „das kleine Dorfschulmeisterlein“.
Ich
wusch meine Wäsche und hängte sie hinter dem Haus auf die Leine, duschte mich
und setzte mich dann genüsslich in die Sonne. Keine bekannten Gesichter, ich konnte
mich also voll auf mich konzentrieren. So beschloss ich, nicht mehr zum Essen
zu gehen, sondern mir nur einen Tee zu kochen und meine Vorräte aufzubrauchen,
meinen Pilgerführer zu lesen und einfach auszuruhen.
Es
war herrlich, hinter dem Haus in der Sonne zu sitzen und in die Gärten der
Nachbarhäuser zu blicken. Ich dachte daran, wie sehr es meinem Vater hier
gefallen hätte. In seinem Leben war er immer für das Einfache gewesen. Er
liebte die Natur und wollte eigentlich Förster werden, aber dazu fehlte als
Kind eines Schneidermeisters das Geld. So lernte er Tischler, weil er dann
wenigstens auch mit Holz arbeiten konnte. Dann begann der Krieg, dem er wie so
viele andere seine Jugend opfern musste und den er hauptsächlich auf den
Kanalinseln als Flaksoldat verbrachte. Nachdem er aus der englischen
Gefangenschaft nach Hause gekommen war, wurden im östlichen Teil Deutschlands,
zu dem unsere Heimat gehörte, Neulehrer gesucht. Überzeugt, für ein
demokratisches, freies Deutschland Aufbauarbeit leisten zu können, meldete er
sich freiwillig für ein Lehrerstudium an der so genannten Arbeiter- und
Bauern-Fakultät in Halle an.
Eigentlich
hatte er mit seinem Freund Christian, den er in der englischen
Weitere Kostenlose Bücher