Das Leben in 38 Tagen
ich so viel wie möglich erfahren, besonders da wir nun
wussten, dass wir ab morgen wieder jeder für sich allein weitergehen würden.
Carol war etwas traurig, weil unsere Trennung bevorstand, aber ich hoffte, dass
wir uns vielleicht später noch einmal wiedersehen würden. Spätestens in Kanada
oder Deutschland. Wir hatten inzwischen so viel voneinander erfahren und
zusammen erlebt, dass wir beide gern weiter in Kontakt bleiben wollten.
Irgendwie waren wir wie Seelenverwandte und es rührte mich, als Carol mir
versprach, für mich und meine Füße zu beten. Abschied nehmen von vertrauten
Menschen ist immer schwer, aber man kann ihm nicht entkommen. Man kann ihm nur
entgegengehen. Vielleicht hilft das manchmal... Die drei wollten mich unbedingt
bis zum Hotel begleiten und dabei machten wir auf Aghis Empfehlung hin noch einen kleinen Abstecher zur Kathedrale. Der große Platz war
erfüllt vom goldenen Glanz unzähliger Lichter, die die Kirche wunderbar von
außen erstrahlen ließen. Ihre leuchtende Silhouette zeichnete sich
eindrucksvoll gegen den dunklen Nachthimmel ab. Was für ein imposantes Abschiedsbild für Carol und mich !
„Good bye, my peregrina -friend, good luck, buen camino!”
„I think of you and I pray
for you, buen camino, Conny !”
Wir
umarmten uns sehr herzlich und dann beeilten sich die drei, um nicht an der
Klosterherberge vor verschlossener Tür zu stehen. Carols Lächeln aus ihrem
lieben Gesicht mit den großen braunen Augen und den dunkel gelockten Haaren war
das letzte Bild, das mir von ihr in Erinnerung blieb.
Nun
freute ich mich auf mein ruhiges Hotelzimmer, aber da hatte ich mich gewaltig
geirrt. Neben mir wohnte ein spanisches Pärchen, das anscheinend die Nacht zum
Tag machte. Die Wände waren so dünn, dass man jedes Wort hören konnte, und so
wurde es nichts mit meiner Nachtruhe.
Also
erlebte ich in Gedanken noch einmal den heutigen Tag. Er hatte alles
beinhaltet, was es auch im Leben gab; freudige Überraschungen mit Antonio heute morgen , eine besinnliche Stunde im duftenden
Kräuterbett, Hektik, Lärm und Nervosität an der Schnellstraße, öde graue
Vororte, die beeindruckende Kathedrale und schließlich die nun doch auf einmal
schöne Stadt, die netten Bekanntschaften und sogar der Abschied! Wo sonst lagen
an einem Tag so viele Empfindungen nebeneinander? Wo sonst konnte man an einem
Tag so viele verschiedene Situationen erleben? Konnte man hierbei nicht am
besten lernen, sein Verhalten zu überprüfen und zu kontrollieren?
Vor
allem wollte ich ja lernen, gelassener zu sein und nicht zu hohe Ansprüche zu
stellen. So wie Carol. Auch von anderen Menschen konnte ich noch einiges lernen
und ich wollte dankbar dafür sein, dies zu erkennen. Ich wollte versuchen,
immer die positive Seite zu sehen, so wie Anne, und ein bisschen so
selbstbewusst und lebenslustig zu sein wie Aghi . Aber
natürlich wollte ich nicht die Kopie eines anderen Menschen sein. Ich war ich,
und selbst wenn ich mich ganz schlecht gefühlt hatte, wollte ich doch mein
Leben mit keinem anderen Menschen tauschen. Dies war, glaube ich, auch eine
sehr wichtige Erkenntnis...
Ich
regte mich also nicht über meine Zimmernachbarn auf und irgendwann schlief ich
trotz des Lärms ein. Am nächsten Morgen kostete ich es aus, allein in meinen
vier Wänden aufzuwachen. Ich ließ mir viel Zeit bei der Körper- und Fußpflege,
packte in Ruhe meinen Rucksack und bezahlte zum Schluss meine Zeche.
Frühstücken wollte ich heute irgendwo in der Stadt in einem der gemütlichen
Cafés, die mir so gut gefielen.
In
freudiger Erwartung des kommenden Tages verließ ich das kleine Hotel und fand
mich bald darauf mitten in den geschäftigen Straßen Leóns wieder. Nach einigem
Suchen und Fragen erreichte ich meinen Camino, der tatsächlich durch
eingearbeitete Steinmuscheln im Straßenpflaster gekennzeichnet war. Er führte
mich mitten durch die schöne Altstadt an der berühmten Basilika San Isidoro
vorbei, in der die sterblichen Überreste des heiligen Bischofs und
Kirchenlehrers von Sevilla seit dem elften Jahrhundert aufbewahrt und verehrt
werden.
Neben
der romanischen Basilika befindet sich das nicht weniger berühmte Pantheon der
Könige, das ebenfalls aus dem elften Jahrhundert stammt. Hier fanden 23
Monarchen ihre letzte Ruhestätte, darunter auch ihr Auftraggeber und erster
König von Spanien, Ferdinand I. Wie mein Reiseführer berichtet, soll die Decke
im Innenraum eine solche Vielzahl an schönen romanischen Fresken
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