Das Leben in 38 Tagen
Gefangenschaft
kennen gelernt hatte, in Hannover ein neues Leben beginnen wollen. Die beiden
hatten schon ein gemeinsames Bankkonto dort eröffnet, aber mein Vater hatte die
Rechnung ohne seine Familie gemacht. Seine beiden jüngeren Brüder waren ihm
nämlich zuvorgekommen und hatten sich schon eine Arbeit im nachkriegsboomenden
Ruhrgebiet gesucht. So waren sie bereits zu Hause ausgezogen, als mein Vater
aus dem Krieg kam. Nun lag alle Hoffnung der Eltern bei ihrem ältesten Sohn,
meinem Vater. Er sollte das unter großen Entbehrungen in der Inflationszeit
gebaute Haus übernehmen und sich später um seine Eltern kümmern. Diese
Entscheidung, die er pflichtbewusst für seine Eltern und gegen seinen eigenen
Willen traf, war natürlich lebensbestimmend, aber wie sehr, das konnte damals
wohl niemand ahnen. Nachdem mein Vater dann im Erzgebirge erste praktische
Erfahrungen als Lehrer gesammelt hatte, wurde er an eine kleine Dorfschule in
der Nähe seines Heimatortes versetzt. Dort sehe ich ihn in Gedanken noch immer
auf einem Foto neben seinem damaligen Direktor und späteren Freund stehen.
Beide jung, erwartungsvoll und mit fröhlichem Gesicht. Auf der Treppe dahinter
steht eine Tafel mit der Aufschrift „Mein erster Schultag“. An dieser Schule
blieb mein Vater mehr als dreißig Jahre lang bis zu seiner Invalidenrente.
Wegen dieser Treue und weil er zu jedem Elternhaus persönlichen Kontakt
pflegte, nannte man ihn manchmal in dem Dorf liebevoll „das kleine
Dorfschulmeisterlein“, obwohl er nie Direktor geworden ist. Mein Vater
arbeitete vor allem als Werklehrer, wo er seine Erfahrungen als Tischler gut
anwenden konnte. Mit den Schülern baute er Vogelhäuschen, Igelholzbretter und
Spielsachen — wobei mir vor allem der Hampelmann und der Leiterturner noch gut
in Erinnerung sind — sowie andere nützliche Dinge. Von allen gebastelten Sachen
brachte er stets ein Exemplar mit nach Hause und manchmal durften wir in seiner
Werkstatt mit ihm zusammen etwas bauen oder bemalen. Hier roch es immer so
schön nach Holz, und wenn meine Schwester und ich beim Arbeiten dabei sein
durften, fühlten wir uns stolz und glücklich. Der Ideenreichtum meines Vaters
kannte keine Grenzen und sein Gesicht lächelte immer ganz schelmisch, wenn er
mal wieder etwas Neues vorhatte.
Am
liebsten aber verbrachte er die Zeit zusammen mit dem Förster und den Schülern
im Wald oder in der Natur. Dabei wurden ganze Schonungen von jungen Bäumen
angepflanzt, die dann natürlich auch gehegt und gepflegt werden mussten.
Außerdem legte man speziell in dieser Schule Versuchsfelder an, um in
Verbindung mit dem Biologie- und UTP-Unterricht (Unterrichtstag in der
Produktion) das Wachstum bestimmter Pflanzen zu beobachten.
Der
Wald aber war seine zweite Heimat; hier kannte er buchstäblich jeden Baum und
jeden Strauch, und es gab sogar bestimmte Pfade, die nur er getreten hatte.
Meistens lief er wenigstens eine Strecke von fünf Kilometern durch den Wald in
die Schule oder nach Hause. Manchmal benutzte er ein Fahrrad mit Hilfsmotor und
später fuhr er stolz mit dem Motorrad. Wir sind damals ab und zu alle auf einem
Motorrad gefahren, obwohl es natürlich verboten war. Meine kleine Schwester saß
dann auf dem Tank, dahinter kam mein Vater, danach kam ich schön sicher
zwischen Vater und Mutter, während meine Mutter ganz hinten saß.
Fast
jedes Wochenende ging es mit der ganzen Familie hinaus in den Wald und manchmal
schliefen wir sogar dort. Ungefähr zwei Stunden von unserem Zuhause entfernt
gab es mitten im Wald eine große Wiese. Dort stand in der Nähe einer
romantischen Quelle ein altes Häuschen, das früher einmal für den Jagdpächter
errichtet worden war. Herrlich empfanden wir die große überdachte Terrasse, wo
man auch bei Regen an langen Holzbänken gemütlich sitzen und auf die
wunderschöne Waldwiese, den angrenzenden Wald und die umliegenden Berge blicken
konnte. Nicht selten sah man auch Rehe, Hirsche oder Wildschweine, die hier
beheimatet waren.
Das
Innere des Hauses bestand aus zwei Zimmern, einer Küche und einem urigen
Heuboden, wo man zusammen mit den Siebenschläfern, die hier ihr Zuhause hatten,
übernachten konnte. Es gab aber auch die Möglichkeit, in zwei Betten zu
schlafen, was wir meistens taten. In der kleinen Küche stand ein Herd, auf dem
man mit dem Holz aus dem Wald heizen und kochen konnte (meistens
Ochsenschwanzsuppe) und wo es eine für uns Kinder geheimnisvolle Falltür zu
einer winzigen Vorratskammer gab.
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