Das Leben in 38 Tagen
drinnen, während Andreas noch immer am
Eingang stand und ankommende Pilger empfing. Ich fand, dass der väterlich
anmutende helle Strickpullover genau zu seinem freundlichen, offenen Gesicht
mit den gelebten Falten passte. Seine klugen dunklen Augen leuchteten hinter
den Brillengläsern, als er mir dann auf meine Frage zeigte, wie das Internet
funktionierte. Nun konnte ich endlich mal wieder E-Mails lesen und schreiben
und freute mich nebenbei darüber, wie sich Antonio mir Andreas auf Spanisch
unterhielt.
Andreas
war der Mann für alles. Er besorgte Decken, Klopapier, machte sauber, füllte
die Automaten auf und war ständig ansprechbar. Er blieb, bis alle im Bett
waren, und stand morgens früh schon wieder vor seinem kleinen Büro. Vielleicht
schlief er sogar dort. In dieser einfachen Schulherberge fühlte ich mich
jedenfalls so geborgen, dass ich das ins Gästebuch schreiben musste. Dabei
stellte ich fest, dass andere Pilger das genauso empfunden hatten.
Bemerkenswert fand ich auch die Tatsache, dass es hier keine Öffnungszeiten wie
in den meisten anderen Herbergen gab, sondern dass man rund um die Uhr ankommen
konnte. Dankbarkeit ist hier keine Floskel, sondern ein Bedürfnis, dachte ich.
Nach
einem Automatenkaffee und einem herzlichen Abschied von Andreas machte ich mich
am nächsten Morgen schon vor 8.00 Uhr auf den Weg. Heute wollte ich dreißig
Kilometer bis zur Bischofsstadt Astorga laufen, also ein gewaltiger Ritt!
Die
vielen Krähen, die gestern Abend und heute früh in den großen Pappeln gegenüber
noch ein Heidenkonzert veranstaltet hatten, schienen nun verschwunden.
Verschwunden waren auch meine Bettnachbarn; eine junge, selbstbewusste deutsche
Frau (mal wieder Krankenschwester!) und das südamerikanische Ehepaar, das die
halbe Nacht um die Wette geschnarcht hatte. Die beiden hatte ich schon vorher
als Schnarcher eingestuft, aber die anderen Pilger waren auch nicht zu
überhören gewesen in dem großen Schlafsaal. Trotzdem hatte ich mich über Nacht
ganz gut erholt. Meine Füße waren wieder abgeschwollen, gut versorgt und so
schritt ich erwartungsvoll in den neuen Tag. Die Sonne kam heraus und begrüßte
mich freundlich und ich antwortete: „Hallo, Sonne, hallo, neuer Tag, wie schön
ist es, hier zu sein!“ - und keiner war da, der über mich lachte.
Durch
das verschlafene Villadangos del Páramo (es gab so
viele klangvolle Ortsnamen, deren Bedeutung ich leider nicht verstand) führten
mich die gelben Pfeile wieder hinaus auf den Pfad zwischen der Landstraße und
dem Grün der Felder. Die Vögel zwitscherten, als
würden Preise dafür vergeben, einige Lerchen machten ihre Stehversuche in der
Luft. Heute war Samstag und deshalb gab es kaum Verkehr. Eine friedliche
Frühlingsmorgenidylle unter strahlend blauem Himmel umfing mich und mein Herz
und meine Schritte schienen noch federleicht.
Nicht
weit entfernt sah man schon die ersten Häuser des nächsten Dorfes San Martin
del Camino, das ich rasch durchschritt. Nach etwa drei Stunden Laufens neben
fast schnurgerader Landstraße erreichte ich Hospital de Órbigo, ein kleines
Städtchen, welches durch seine berühmte Brücke aus der Römerzeit bekannt
geworden war.
Diese
schmale, fast original erhaltene alte Römerbrücke überspannte mit zwanzig
Steinbögen den Rio Órbigo mit seinem breiten Flusstal. Hier soll im fünfzehnten
Jahrhundert ein Ritter mit nur zehn Gefolgsleuten dreißig Tage gegen 68
pilgernde Ritter erfolgreich gekämpft haben, um die Gunst einer Frau zu
gewinnen. Zu dieser Zeit waren die Mauren besiegt, es gab ein christliches
Königreich und damit kaum mehr Möglichkeiten für die Ritter, sich durch Kämpfe
auszuzeichnen. Viele Ritter aber waren auf dem Weg nach Santiago und deshalb
hatte sich dieser Verliebte die besondere Idee einfallen lassen. Ob er
allerdings bei seiner Herzensdame damit Erfolg hatte, wurde nicht überliefert.
Bevor
ich diese beeindruckende Brücke überschritt, kehrte ich noch in einem Café ein,
denn wie immer nach etwa zehn Kilometern machten sich nun wieder meine Füße
bemerkbar. Außerdem hatte ich noch nicht richtig gefrühstückt und bekam langsam
Hunger. Ich war froh, endlich in einer Seitenstraße etwas gefunden zu haben,
und meine Stimmung wurde noch besser, als ich sah, wer in dem Café saß.
Es
waren Chris, der Australier mit seinem Cowboyhut, und die hübsche Anne aus
Norwegen. Immer wieder war es ein schönes Gefühl, wenn man überraschend auf
liebe Bekannte stieß, gerade wenn man allein
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