Das Leben in 38 Tagen
Licht spendeten nur Kerzen und
Petroleumlampen. Am Tage tobten wir auf der Wiese, sammelten Holz oder Beeren
und abends saßen wir zusammen, spielten Karten und erzählten. Dies sind meine
schönsten Kindheitserinnerungen, ohne Fernseher und Radio unter einfachsten
Bedingungen.
Ich
glaube, wir waren eine glückliche Familie, bis meine Mutter plötzlich ohne
Vorwarnung starb. Meine Eltern waren gerade fünf Jahre verheiratet und ich war
vier und meine Schwester drei Jahre alt. Wahrscheinlich hat mein Vater den Tod
meiner Mutter nie richtig verwunden, zumal sie gerade mit einem Jungen
schwanger gewesen war. Er hatte sich immer einen Jungen gewünscht. Aber dieser
Wunsch sollte ihm nicht erfüllt werden, denn meine Stiefmutter, eine Lehrerin,
die er kurze Zeit später heiratete, brachte auch zwei Mädchen zur Welt. Nun
waren wir vier Mädchen zu Hause und das bedeutete keine leichte Aufgabe für
meine Eltern.
Wir
Kinder spürten es daran, dass mein Vater immer öfter wütend wurde und uns
manchmal wegen geringer Vergehen sogar schlug. Trotzdem liebten wir ihn sehr.
Ich denke, dass er es tat, weil er sich unglücklich und hilflos fühlte, oftmals
gefangen in Zwängen, sowohl politisch als auch familiär, aus denen er keinen
Ausweg sah. Vielleicht wurde er zwischen Pflichtbewusstsein und Gefühlen hin-
und hergerissen. Emotionale, ehrliche Menschen haben es eben doch schwerer in
dieser genau strukturierten Welt, in der es immer nur um Anpassen und Einordnen
geht, egal, ob im Kapitalismus oder im Sozialismus. Ich glaube manchmal, meinen
Vater machte es krank, dass er sich immer verbiegen musste. Als Lehrer durfte
niemand seine wirkliche politische Meinung sagen, sondern musste oft das genaue
Gegenteil als seine eigene Überzeugung verkaufen. Dies war für meine Eltern oft
sehr schwer, zumal es mit unserem christlichen Glauben in totalem Widerspruch
stand. Insofern hätte es mein Vater in Hannover sicher besser gehabt...
Jedenfalls
waren meine Schwester und ich immer sicher, dass er uns liebte, auch wenn er es
nicht so richtig zeigen konnte. Ich glaube, in der heutigen Zeit haben es die
Männer da einfacher. Sie dürfen Gefühle zeigen, dürfen gleichberechtigt die
Kinder betreuen, ohne schief angesehen zu werden. Sie müssen nicht immer nur
stark sein. Mein Vater war ein guter, zuverlässiger und offener Mensch, dem wir
sehr viel zu verdanken haben. Er war immer für uns da, wenn wir ihn brauchten,
und ich denke, dass er dies auch für seine Schüler war. Dabei wollte er immer
gern und viel vermitteln, vor allem die Liebe zur Natur und zum Leben,
insbesondere zu den einfachen Dingen, aber auch zu Ehrlichkeit,
Begeisterungsfähigkeit, Kameradschaft und Geradlinigkeit.
Ich
denke aber, dass es sein größtes Problem war, sein Leben so anzunehmen, wie es
war, mit allen Schicksalsschlägen und Gegebenheiten. Immer hatte er das Gefühl,
dass er sein Leben nicht so leben konnte, wie er es eigentlich wollte. Dies
wurde mit zunehmendem Alter immer offensichtlicher. Aber man sollte ja nicht
nur den äußeren Bedingungen und vor allem nicht anderen Menschen die Schuld an
der eigenen Unzufriedenheit geben. Dies ist wohl sehr schwierig und da bin ich
schon wieder bei meinen eigenen Problemen angelangt...
Ich
bin dankbar für meine Eltern. Trotzdem wäre ich gerne härter und hätte meine
Gefühle lieber besser im Griff. Sensibilität ist gut bis zu einem gewissen
Grade, aber wenn sie in Sentimentalität ausartet, wird es immer schwerer, sie
zu kontrollieren. In diesem Moment dachte ich daran, dass ich noch sehr an mir
arbeiten musste und auch deshalb diesen Weg ging. Dabei war mir bewusst, dass
es ein langer Prozess ohne die Gewissheit sein würde, ob es überhaupt
funktionierte.
Mittlerweile
waren meine Sachen in der schönen Abendsonne und dem leichten Wind getrocknet.
Ich schüttelte den Anflug von Traurigkeit ab und tauchte wieder in die
Wirklichkeit ein. Auf einmal stand Antonio neben mir und sein Gesicht strahlte
vor Freude.
Sogleich
konnte ich mich mit ihm mitfreuen, auch wenn wir uns kaum unterhalten konnten.
„ I’m so glad !“, sagte er und ich
antwortete: „ Me too !“, und
das stimmte ja auch. Ohne große Worte fühlten wir uns verbunden.
Ich
glaube, Antonio war ein ähnlich emotionaler Mensch wie ich. An unseren
Gesichtern konnte man die Gefühle und Gedanken ablesen und das ist zwar nicht
immer von Vorteil, schweißt aber zusammen. Seelenverwandtschaft...
Zusammen
brachten wir nun auch unsere Wäsche nach
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