Das Leben in 38 Tagen
unterwegs war. Chris hatte
plötzlich Tränen in den Augen, aber nicht wegen mir, sondern weil er gerade im
Gästebuch des Cafés gelesen hatte. „My friend, my Australian
friend was here. She wrote greetings for me. Isn’t it a wonder that I arrived here ?” Rührend, wie
dieser ältere gestandene Mann mit den Tränen kämpfte. Der Australier hatte
nicht damit gerechnet, eine Nachricht zu bekommen. Er schrieb nur gern mit
einer wunderbar gleichmäßigen Schrift in die Gästebücher. Das hatte ich schon
beobachtet.
Dieser
Mann hatte etwas Anziehendes an sich; ich glaubte, seine Wärme und Herzlichkeit
zu spüren. Ein Mann, der sich seiner Gefühle anscheinend nicht schämte... Aber
wo war Helen, seine dänische Begleiterin? „She
wanted to stay in León for one or two days, but where is your friend Carol? ”, fragte er mich seinerseits . „It’s the
same. She wanted to stay in León, too”, antwortete ich . Wir
lachten in einer Sprache!
Später
tauschten wir noch unsere Eindrücke über León aus und Anne erzählte, dass sie
dort in der Pilgerherberge leider das T-Shirt für ihren Sohn Tomas vergessen
hatte. Schade, wo es doch besonders gut zu ihm gepasst hätte. Kurz darauf
verabschiedeten sich erst Chris und Anne voneinander, denn jeder wollte nun
wieder allein weitergehen, und dann beide von mir. Obwohl ich mich gern noch
länger mit ihnen unterhalten hätte, verstand ich sie doch. So war das eben.
Jeder hatte seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Ziele und Wünsche.
Sie
hatten schon ihre Pause gemacht und nun ging es weiter. Vielleicht würden wir
uns in Astorga w iedersehen. Wer
weiß? Ich trank meinen Kaffee und aß hausgemachten Rührkuchen, da es nichts
anderes gab, dann machte ich mich auch wieder auf den Weg. Noch immer waren
kaum Menschen zu sehen, obwohl es inzwischen später Vormittag war.
Ich
genoss es, über die berühmte alte Römerbrücke zu laufen, bei der selbst das
Pflaster noch original erhalten zu sein schien. Nicht zum ersten Mal auf dem
Weg hatte ich den Eindruck, als ob die Zeit stehen geblieben sei, so wenig
hatte sich auf den ersten Blick an einigen Stellen verändert. Selbst das Wasser
in dem Fluss Órbigo schien noch so sauber, dass man ohne Weiteres hätte darin baden können.
Schön
empfand ich auch den Blick auf die Landschaft, die nun zunehmend hügeliger und
fruchtbarer wurde. Hinter der kleinen alten Stadt gab es zwei Wegalternativen.
Entweder konnte man weiter neben der Straße herlaufen oder man nahm einen
kleinen Umweg in Kauf, der einen durch Wald und Felder führte. Diesmal
entschied ich mich für den Umweg, da er ausdrücklich im Reiseführer empfohlen
wurde. Und ich wurde nicht enttäuscht. Nachdem ich den nächsten kleinen Ort
hinter mir gelassen hatte, führten mich die gelben Pfeile (danke für die guten
Wegweiser!) hügelan in eine ruhige, mit Bäumen, Sträuchern und Heidekraut
bewachsene, abwechslungsreiche Landschaft. Nun ging es wieder bergauf und
bergab, aber das machte mir nichts aus.
Ich
genoss es besonders, mal wieder auf den weichen Waldwegen zu gehen, wo man sich
ganz allein fühlte, abseits vom Straßenlärm, nur vom Vogelzwitschern und
vereinzelten Kuckucksrufen unterbrochen. Endlich erfüllte sich mein Traum; es
war warm und trocken und ich konnte mich auf einer Waldwiese in den Schatten
eines Baumes legen, die Schuhe ausziehen, den Kopf auf dem Rucksack, herrlich!
Rundherum nur Grillenzirpen, Bienensummen und Vogelzwitschern. Ich war
glücklich, allein hier zu sein, schaute nicht mehr auf die Uhr und schlief
sogar ein bisschen ein. Dabei träumte ich von meiner Kindheit, als ich mit
meiner Schwester und meinem Vater zusammen im Wald unterwegs war.
Alle
drei trugen wir stets kurze Hosen zum Wandern, einen kleinen Campingbeutel auf
dem Rücken und einen Stock in der Hand. Dabei bewunderten wir immer meinen
Vater, weil er den Stock mit den meisten Wanderabzeichen besaß. Diese konnte
man damals an vielen Aussichtspunkten kaufen. Es ging einen steilen Berg hinauf
und meine Schwester und ich fingen an zu jammern, weil uns die Füße weh taten . Daraufhin nahm mein Vater meine kleine Schwester
auf die Schultern und trug sie hinauf bis zu dem Kreuz auf dem Gipfel, so wie
er es oft getan hatte. Ich stapfte mühsam über Wurzeln, altes Laub und herab
gefallene Äste hinterher. Aber ich schaffte es allein; ich war ja auch die
Ältere. Oben angekommen packten wir unsere Vorräte aus und setzten uns auf den
Steinsockel des Kreuzes. Mein Vater erklärte
Weitere Kostenlose Bücher