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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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überschreiten und vorher zwei
verfallene Dörfer passieren. Besonders auf das als Geisterdorf verschrieene Foncebadón war ich sehr gespannt. Der Ort soll
für einige Jahre völlig verlassen gewesen sein und gefährliche Wolfsrudel,
streunende Hunde und Wegelagerer sollen die Pilger dort bedroht haben. Als ich
endlich nach steilem, stundenlangem Anstieg durch pilzgraue, knorrige
Eichenwälder das Dorf erreicht hatte, musste ich lachen. Mitten auf der Straße
lagen zwei große, friedlich dösende Hunde in der Sonne. Sie hatten alle Viere
von sich gestreckt und bewegten sich auch nicht, als ich direkt an ihnen
vorbeiging. Und das gerade in dem Ort, vor dessen angriffslustigen Hunden ich
solchen Respekt aufgebaut hatte!
    Foncebadón
bestand zwar noch hauptsächlich aus Ruinen, aber die Wiederbelebung des Dorfes
hatte bereits begonnen. Es gab zwei neue Herbergen, die sehr gut sein sollten,
und zwei Bars. In der renovierten Kirche war 2003 nach dreißig Jahren wieder
die erste Messe gelesen worden! Das klang doch sehr ermutigend. So hatte also die
unleugbare Kommerzialisierung des Jakobsweges auch positive Auswirkungen. Auf
einer Wiese am Ortsausgang sah ich zu meiner Freude sogar einen Bauern mit
seinen Kühen!
    Obwohl
Foncebadón schon 1424 Meter hoch lag, führte mich mein Weg immer weiter
bergauf. Der Schweiß rann mir mittlerweile in Strömen den Rücken hinunter. Hier
oben ging zwar ein kühlender Wind, aber die Sonne hatte doch schon viel Kraft.
Immer wieder blieb ich stehen und genoss den Blick über die majestätischen,
teilweise mit Schnee bedeckten Berge, mit denen ich nun fast auf gleicher Höhe
schien. Vor mir lagen die duftenden Hänge mit gelb und weiß blühendem Ginster
und lila und weiß blühendem mannshohem Heidekraut. Was für ein Glück, den Weg
gerade in dieser Frühlingszeit und bei dem herrlichen Wetter laufen zu können!
Das musste ich immer wieder denken! Nur das Steinkreuz auf dem Gipfel wollte
einfach nicht auftauchen! Ich überholte das Ehepaar aus Costa Rica, wobei ich
mich fragte, wie lange die beiden wohl noch mit mir Schritt halten würden.
Immerhin war das korpulente und stets schnaufende Paar schon seit León hinter
mir her, oder ich hinter ihm? Wie langsam lief ich eigentlich?
    Ich
fühlte in meine Jackentasche, ja, der kleine Stein, den ich von den
Steinmännchen bei Atapuerca mitgenommen hatte, war noch da! Endlich, als ich
schon das Gefühl von Blei in den Füßen hatte und mein Rucksack mir zwanzig Kilo
schwer erschien, sah ich das berühmte „Cruz de Ferro“ (Eisenkreuz). Es stand
völlig frei auf einem meterhohen und breiten Steinhaufen. Eigentlich völlig
unspektakulär steckte an der Spitze eines langen Holzpfahles ein kleines Eisenkreuz.
Das Besondere stellten zweifellos die Unmengen an Steinen dar, die Millionen
von Pilgern hier abgelegt hatten, in der Hoffnung, damit auch ihre Sorgen
zurücklassen zu können. Dieser Brauch ist uralt und stammt wahrscheinlich schon
aus der Antike.
    Für
mich stellte das Erreichen des Steinkreuzes fast schon so etwas wie das
Erreichen des gelobten Landes dar. Ein Vorgeschmack auf das Erreichen des Monte
do Gozo kurz vor Santiago! Gerührt stand ich oben auf dem Steinhaufen und hielt
einige Minuten inne. Dann legte ich feierlich meinen Stein auf die anderen.
Dabei wünschte ich mir eigentlich nur Vertrauen. Vertrauen und Mut, so wie
Jutta es mir in der Herberge von Cirueña gewünscht hatte. Vertrauen vor allem
dort, wo man nicht verstehen kann. Wenn ich das verinnerlichen könnte, dann
würde ich auch alles loslassen können, was mir bisher Sorgen bereitet hatte.
Der Stein war ein Symbol für das Loslassen, Ablegen, Zurücklassen von etwas,
was einen nur beschwert und nicht voranbringt. Man kann nur weitergehen, wenn
man loslassen kann, und man kann nur loslassen, wenn man weitergeht. So einfach
ist das und doch so schwer... Unweit des Steinkreuzes stand eine kleine
Kapelle, an deren Außenwänden Steinbänke angebracht waren. Dort setzte ich mich
für eine stärkende Rast nieder. Gerade als ich noch einmal in Ruhe nachdenken
wollte, kam Wolfgang, den ich in Astorga kennen gelernt hatte. Genau wie ich
war er völlig durchgeschwitzt, aber im Gegensatz zu mir konnte er seinen
Oberkörper frei machen und seine Sachen in die Sonne legen. Als er neben mir
Platz genommen hatte, lachten sich unsere nackten Füße an. „Ist das nicht
herrlich hier oben? - Lohnt es sich nicht allein dafür, weiterzuleben?“, fragte
er mich mit verklärtem Gesicht.

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