Das Leben in 38 Tagen
die immer nur einen Teil der
Strecke lief. „Pseudopilger!“, lachte der andere Mann, der als Erster der
Gruppe hier angekommen war.
„Ob
man sich an solch eine geführte Pilgerreisegruppe anschließt, muss jeder selbst
entscheiden. Es kommt immer darauf an, was man von dem Weg erwartet und was man
sich selbst zutraut. Es gibt durchaus Menschen, für die es mehr Stress als
positive Erfahrung bedeuten würde, allein zu pilgern, sei es durch mangelnde
Sprachkenntnisse, aufreibende Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten oder
einfach Angst vor fehlender Sicherheit. Ganz so wie im richtigen Leben auch,
wird hier der Gewinn der einen Freiheit durch den Verlust einer anderen
erkauft. Es obliegt der Verantwortung jedes einzelnen Pilgers, seine
Prioritäten zu setzen und dementsprechend persönliche Entscheidungen zu
treffen. Auch mangelnde physische oder psychische Leistungsfähigkeit könnte ein
Grund für eine Buspilgerreise darstellen“, erklärte Raimund, „und außerdem
macht es mir Spaß, die Menschen zu führen!“ Das war der etwas ironische
Schlusspunkt seiner kleinen Ansprache, denn inzwischen standen zehn bis
fünfzehn laut durcheinander schwatzende, meist ältere Menschen um uns herum.
Ich
sah nun zu, dass ich mich schnell verabschiedete, denn auf so viele Menschen
hatte ich jetzt wirklich keine Lust. Innerlich beschwingt über diese völlig
unverhoffte, interessante Begegnung in dem kleinen Bergdorf ging ich einen
Kaffee trinken. Während ich mich zu dem kräftigen südamerikanischen Paar im
vorderen Teil der Gaststätte setzte, nahm die deutsche Reisegruppe unüberhörbar
den hinteren Teil des Lokals in Beschlag. Nein, diese Art des Pilgerns wäre
nichts für mich gewesen, obwohl das früher sogar die häufigste Weise
darstellte, schon allein aus Sicherheitsgründen.
Meine
Tischnachbarn, die ich von Villadangos kannte, ließen sich gerade ein
ordentliches Mittagessen schmecken. Ich versuchte, ein Gespräch zu beginnen,
was ich aber aufgrund meiner minimalen Spanischkenntnisse aufgeben musste.
Immerhin erfuhr ich, dass es den beiden gut schmeckte und dass sie aus Costa
Rica kamen. Also war meine Vermutung mit Südamerika fast richtig gewesen.
Immer
wieder fand ich es erstaunlich, wie international sich doch die
Pilgergemeinschaft zusammensetzte. Selbst wenn die Konversation sehr mangelhaft
blieb, sich oft nur auf freundliche Mimik und Gestik beschränkte, wollte ich
diese interessanten Begegnungen und Beobachtungen nicht missen. Solche
Erfahrungen blieben in einer geführten Pilgergruppe wohl eher die Ausnahme.
Nach
einem kurzen Abstecher in den winzigen Dorfladen landete ich wieder in meiner
Herberge. Hier herrschten strenge Regeln, denn man kam nur mit Klingeln hinein und
hinaus. War es schon ein kleines Privileg, hier übernachten zu können? Das
hatte ich so jedenfalls noch nirgends erlebt. Im Innenhof saßen die anderen
„Privilegierten“ schon fröhlich bei Tee und „Cookies“ zusammen. Das hatte ich
nun verpasst, aber dafür störte mich jetzt wenigstens niemand mehr beim Duschen
und Wäschewaschen.
Und
noch eine Überraschung erwartete mich heute. In dem herrlich großen Garten, der
zu dem alten ehemaligen Pfarrhaus gehörte, stand ein „Wunderbaum“. Hier konnte
man ähnlich wie in China oder Japan seine Wünsche aufschreiben und als
zusammengerollte Schleife an den Baum hängen. Hier lernte ich Annemarie, eine
hübsche dunkelhaarige Frau aus Kiel, kennen, die voller Freude und Vertrauen
ihre Wünsche an den Zauberbaum heftete. Ich überlegte, ob ich das auch tun
sollte, ließ es dann aber. Ich dachte, wenn mir Gott oder meine Engel — wer
immer sie auch waren — helfen wollten, dann würden sie es auch ohne Wunderbaum
tun. Wenn es einen Gott gab, — und dieses Gefühl hatte ich ganz deutlich auf
dem Weg — dann wusste er auch genau, was mir fehlte.
Hape Kerkeling hatte geschrieben:
„Am Ende ist Leiden doch ein ,Nicht -Verstehen’. Und
wenn man etwas nicht versteht, muss man Vertrauen haben. So ist es also
manchmal nur unsere Haltung, die uns leiden lässt.“
Der
Schlüssel zu meinen Wünschen lag wohl nicht zuletzt auch bei mir selbst, in
meiner Haltung zu verschiedenen Dingen und Personen...
Zusammen
mit einigen anderen Pilgern genoss ich den duftenden und herrlich blühenden
grünen Garten und ließ meine nackten wunden Füße von der Abendsonne bescheinen.
Ein buntes Völkchen hatte sich heute wieder zusammengefunden; zwei junge
Studentinnen aus Finnland saßen auf einer
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