Das Leben in 38 Tagen
im
Dorf wuchs auf einem kleinen Platz eine riesige Kastanie, in deren Schatten
eine Holzbank stand. Zu diesem idyllischen Bild passte genau der Mensch, der
dort saß und schrieb: Chris!
Langsam
ging ich auf ihn zu und sah die Freude in seinen blauen Augen blitzen, als ich
mich neben ihn setzte. „The
nice old man under the nice old tree! What’s
a wonderful picture here! ”, sagte ich . Er
lachte sein ansteckendes Lachen und Wärme durchflutete mich, obwohl ich schon
total erhitzt war. „ I’ll stay here tonight . Do you want to stay here , too , in this auberge ?“,
fragte Chris, während er auf ein altes, blumengeschmücktes Bauernhaus neben
einer kleinen Kapelle zeigte. Ich überlegte lange. Wie schön wäre es, einfach
hier zu bleiben in dieser einladenden Herberge und dem freundlichen Bergdorf!
Ich hätte endlich einmal Gelegenheit, mich ausgiebig mit Chris zu unterhalten,
da bis jetzt erst wenige Pilger hier eingekehrt waren. Der Abend würde bestimmt
lustig werden! Unschlüssig saß ich neben dem Australier auf der Holzbank und
genoss den Schatten des alten Baumes und die Gegenwart des Mannes, der mich auf
dem Weg bis jetzt am meisten interessiert hatte. Zum ersten Mal konnten wir uns
allein in Ruhe unterhalten. Er fragte mich nach meiner Motivation für den Weg,
nach meiner Arbeit und nach meiner Familie. Im Laufe des Gesprächs stellten wir
fest, dass uns beide eine soziale Ader verband. Chris erzählte mir, dass er in
Sydney für eine karitative Organisation arbeiten würde, die arme Menschen,
besonders allein stehende Mütter, unterstützen würde. Die Organisation heiße
Scientology. Ich war erstaunt, traute mich aber nicht weiter zu fragen. Er sah
auf einmal so traurig aus. Ja, es gäbe viele arme Menschen in Australien,
besonders in den Städten, und wenig Geld vom Staat. So müsse die Hilfe aus
Spenden finanziert werden...
Ich
weiß nicht, was genau den Ausschlag gab, aber auf einmal spürte ich, dass ich
weitergehen musste. Wir verglichen noch unsere Tagespläne bis Santiago und
dabei erkannte ich, dass Chris den gleichen großen Reiseführer mit den
spirituellen Gebeten und Gedanken benutzte, wie ihn Carol immer bei sich
getragen hatte. Eine leise Trauer erfasste mich plötzlich und ich
verabschiedete mich schnell, damit Chris es nicht merkte. „Everybody has to go his own way! ”, sagte ich , um eine feste Stimme bemüht , während Chris mir aus der Seele sprach : „Yes, the way to himself!” Ich spürte, wie mir die Tränen aus den Augen schossen. Nur schnell weg,
dachte ich und Chris rief mir nach: „ Have a good time. See you , Conny!“
Ich
drehte mich nicht mehr um, hob nur die Hand. Warum war ich auf einmal wieder so
traurig nach diesem herrlichen Tag? Bedeutete es das Loslassen von einem
seelenverwandten Menschen, zu dem ich mich selbst in freier Entscheidung
entschlossen hatte? Wollte ich nur testen, ob ich das kann?
Ich
ließ den Tränen freien Lauf, während ich das Dorf verließ. In den Ställen hörte
man Kühe, Schweine und Schafe. Hühner und Gänse liefen quer über den Weg.
Blumen blühten vor den Fenstern und am Wegrand. Hier war Leben und ich
weinte... Den Weg bis hinab nach Molinaseca, das nur noch knapp 600 Meter hoch
liegt, empfand ich als einen der schönsten Abschnitte des ganzen Camino. Ich
begegnete nur einem einzigen Menschen, einem Radfahrer, dessen Mountainbikekünste ich bewunderte. Ein schmaler Pfad
schlängelte sich zwischen löwenzahngelben Wiesen, Felsbrocken, blühenden
Büschen und vielen alten, knorrigen Bäumen ins Tal. Weiter unten begleitete
mich ein munterer Bach, bis er kurz vor Molinaseca in dem kleinen Flüsschen Meruelo verschwand. Der Ort lag wunderschön in einem grünen
Talkessel, umgeben von Hängen mit jungem Wein. Irgendwie schien mir, als hätte
Goethe dieses romantische Bild als Vorlage für seinen „Osterspaziergang“
benutzt: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden,
belebenden Blick. Im Tale grünet Hoffnungsglück. Der
alte Winter in seiner Schwäche zog sich in raue Berge zurück...“ Eine alte
Römerbrücke führte über den malerischen Fluss, an dessen breitem Ufer die
Menschen in der Sonne oder im Schatten großer Kastanienbäume lagen und die
Kinder im klaren , flachen Wasser spielten. Wieder
einmal schien es mir, als ob die Zeit hier stehen geblieben wäre. Ich stand am
Brückengeländer und konnte mich nicht satt sehen. Neben mir stand ein großer,
schlanker, etwas vornehm wirkender älterer
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