Das Leben in 38 Tagen
seine Füße völlig nach
innen verdreht waren und er nur humpeln konnte. Auch er wollte also trotz
seines Handicaps den Weg laufen, ein Pilger sein. Wie gut, wenn man dann einen
Menschen findet, der einen an die Hand nimmt!
Nach
einigen Stunden Marsch inmitten der „Pilgerprozession“ lockte endlich ein
Restaurant am Wegesrand. Im Vorgarten empfingen uns die drei Österreicher schon
freudig. Sie hatten uns bereits zwei Sitzplätze frei gehalten, aber wir mussten
zunächst unsere Geduld mit langem Anstehen an der Toilette und danach am Imbiss
erproben. Endlich konnten wir uns zu Heiner, Heino und Heinz setzen, während
immer neue Pilger nachrückten. Was war denn nur heute los? Im Hintergrund sah
ich noch einige bekannte Gesichter, darunter Helga und Alfred, aber das Gros
stellten die Amerikaner dar. Als die meisten ihren Proviant verzehrt hatten und
die Österreicher wieder bei ihrem Schnaps angelangt waren, nahm mich plötzlich
eine junge Brasilianerin an der Hand und bedeutete uns allen aufzustehen und
einen Kreis zu bilden.
Auf
einmal standen alle Gäste des Restaurants samt der Bedienung und hielten sich
an den Händen. Es waren bestimmt circa fünfzig Menschen aus den verschiedensten
Teilen der Erde, die nun in völliger Ruhe und innerer Verbindung für ein paar
Minuten zusammenstanden. Beim anschließenden Singen filmte jemand mit einer
Videokamera und plötzlich störten mich die vielen Menschen überhaupt nicht
mehr. Im Gegenteil, ich fand es ergreifend, dabei zu sein und das Bindeglied
zwischen einer Brasilianerin und einem Österreicher darzustellen. In solchen
Momenten muss ich immer daran denken, wie sinnlos Kriege sind und dass sich
doch lieber alle Menschen auf der Welt die Hände reichen sollten. Auch — oder
gerade — bei Unstimmigkeiten...
Wir
blieben noch eine Weile sitzen in der Hoffnung, dass uns nun die meisten
Pilgergruppen vorausgeeilt sein würden, denn so schön auch das gemeinsame
Händchenhalten war, allein lief es sich doch besser und vor allem ruhiger. Nun
beschäftigte mich ein weiteres Problem. Sollte ich mit der schwatzenden Sonja
bis Santiago laufen? Gestern Abend hatte mir die Lehrerin aus Göttingen noch
gesagt, dass ich überhaupt nicht zu Sonja passen würde und lernen müsste, mich
zu trennen. Wie hatte sie das so schnell erkannt? Es stimmte ja, ich hatte
immer Probleme, „Nein“ zu sagen, und Sonjas laute und burschikose Art war auch
nicht mein Stil. Aber irgendwie tat sie mir leid und aus irgendwelchen Gründen
mochte sie mich. Na, mal sehen, was sich ergab. Und es ergab sich etwas!
Nach
circa zwanzig Kilometern erreichten wir St. Irene, den Ort, wo ich heute gern
übernachten wollte. Da aber die Gemeindeherberge einen schlechten Ruf hatte,
beschloss ich, heute in einer Privatherberge zu übernachten. Nach drei Tagen in
Massenunterkünften wollte ich mir mal wieder etwas gönnen; Haare waschen,
ordentlich Wäsche waschen und in einem frischen Bett schlafen. Na, und ein
schönes Pilgermenü wäre auch nicht zu verachten. Als sich herausstellte, dass
dieser Luxus mit Frühstück und Abendbrot 27 Euro kosten sollte, klinkte sich
Sonja aus.
„Ach,
hier ist sowieso nichts los, ich gehe lieber zur nächsten Herberge, mal sehen,
wer dort ist!“ Und so wurde auf ganz einfache Weise auch dieses Problem gelöst.
Jeder schlief da, wo er wollte, und so hatte ich auf jeden Fall die Chance,
morgen früh allein loszugehen, was mir sehr viel bedeutete. Auf einmal musste
ich an Carol denken, die Kanadierin, mit der ich mehrere Tage gelaufen war. Wir
beide waren auch oftmals getrennt losgelaufen und hatten uns doch immer wieder
zusammengefunden. Wie weit sie wohl jetzt war? Zu gern hätte ich sie wieder
getroffen, genau wie die beiden Engländerinnen Charlotte und Madlen . Ob ich in Santiago viele Bekannte treffen würde?
Meine innere Spannung und Vorfreude wurde täglich größer.
In
der kleinen Privatherberge, die der Nähe des Zieles entsprechend doch recht
teuer war, traf ich Helga und Alfred, die sich riesig freuten, dass ich auch
hier übernachtete. Sie berichteten mir ganz stolz, dass sie heute über dreißig
Kilometer gelaufen waren. Von Melide bis hierher. Das fand ich eine tolle
Leistung für die Siebzigjährigen. Während Alfred wieder nur brummig nickte,
strahlte die schmale, weißhaarige Frau vor Freude und konnte sich nicht genug
mit mir über ihre Erlebnisse auslassen. Außer uns waren noch drei junge
Italienerinnen, ein Amerikaner, ein spanisches und ein
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