Das Leben in 38 Tagen
schwerer? Sollte man vielleicht eher
schon von Kindheit lernen, mit dem unweigerlichen Sterben umzugehen, es als zum
Leben gehörend zu akzeptieren, anstatt es immer wieder nur zu verdrängen? Ich
weiß nicht, wie ich mich selbst einmal verhalten werde, und mir ist klar, dass
dies ein großes Problem ist, aber ich würde es gern lernen, damit umzugehen,
weil keiner davor fliehen kann...
Nachdem
ich wieder arbeitsfähig geschrieben wurde, obwohl ich mich noch nicht so
fühlte, kündigte ich im Einverständnis mit meinem damaligen Arbeitgeber meine
geliebte Arbeitsstelle. Ich hatte mir vorgenommen, nach Möglichkeit nicht mehr
mit Krebspatienten zu arbeiten und damit den Rat des Kurarztes zu befolgen.
Gern wollte ich wieder in meinem eigentlichen Beruf mit Kindern arbeiten. Dies
hatte mir auch immer den meisten Spaß gemacht. Kinder sind ehrlich, offen,
impulsiv, unvoreingenommen, von Natur aus fröhlich und selten schwer krank.
Und
ich hatte Glück; ich bekam eine Stelle als Kinderkrankenschwester in einem
Mutter-Kind-Kurheim. Dass die Stelle befristet war, erfuhr ich erst beim
Vorstellungsgespräch. Trotzdem war ich glücklich, arbeitete in drei Schichten
fast jedes Wochenende, machte eine Menge Überstunden, durfte keinen Urlaub
nehmen und nach sieben Monaten wurde ich nicht mehr gebraucht.
Ich
stürzte wieder in ein tiefes Loch, musste wieder etwas loslassen, was ich
geliebt hatte. Von den Menschen um mich herum war ich enttäuscht; ich war
überzeugt gewesen, dass wir alle zusammenhalten würden, damit keiner gehen
musste. Wir hatten doch so gut zusammengearbeitet, oder sah ich das falsch? War
das einfach nur blanker Kapitalismus? Selbstzweifel und Enttäuschung waren
dabei, mich wieder zu Boden zu drücken, als ich Weihnachten 2006 das Buch von Hape Kerkeling geschenkt bekam.
Plötzlich
wusste ich, wie es weitergehen sollte. Vielleicht hatte ich ja deshalb die
Arbeit verloren, damit ich diesen Weg gehen konnte? Wer kann es sich schon mit
einem normalen Arbeitsverhältnis leisten, zusammenhängend fünf bis sechs Wochen
Urlaub zu machen?
„So, this was my life and
my problems the way before. I hope it wasn’t too boring ?”, sagte ich zu
meinen Begleitern, als ich geendet hatte. Die beiden fanden es nicht langweilig , im Gegenteil .
„It was very interesting,
it’s a good reason to walk the camino! ”, sagte Madlen und Charlotte ergänzte : „I hope you’ll find your way, Conny !”
Ich
fühlte mich sehr erleichtert, aber auch erschöpft, so viel erzählt zu haben.
Ich hatte Vertrauen zu den beiden Engländerinnen, schließlich waren sie auch
Krankenschwestern und kannten sowohl das „Helfersyndrom“ als auch das
„Burnout-Syndrom“.
Wir
liefen weiter und weiter und jeder hing seinen Gedanken nach.
„Look here , there are beautiful flowers ;
Gänseblümchen!”, versuchte ich nun wieder, auf ein schöneres Thema abzulenken,
als wir an einer grünen Wiese mit kleinen weißen Tupfen vorbeikamen.
„Daisy is the name in
English and what was this name in German again? ”, fragte Charlotte. „Gänseblümchen”
— erst jetzt merkte ich, was für ein schweres Wort das für so eine kleine,
zarte Blume doch ist. Die beiden Engländerinnen versuchten mehrmals
„Gänseblümchen“ nachzusprechen, was ihnen nicht so recht gelang, bis wir
schließlich alle drei nur noch lachten. Ich hatte versucht, es mit „Gans“ und
„Blume“ zu erklären, aber im Englischen gibt es ja keine zusammengesetzten
Worte. Deshalb heißt ja „Kindergarten“ im Englischen auch „Kindergarten“.
Schließlich einigten wir uns, dass „Daisy“ der treffendere Name für dieses
schöne Blümchen ist, und immer, wenn ich später Gänseblümchen sah, dachte ich
an Charlotte, Madlen und die „Daisys“.
Es
blieb ein wundervoller, sonniger Frühlingstag. Dies und die Freude an der
grünen, malerischen Hügellandschaft mit den bewaldeten Bergen im Hintergrund
versüßte uns das anstrengende Laufen mit dem schweren Gepäck. Das hätte meinem
Vater auch gefallen, hier entlangzugehen. Von ihm habe ich die Liebe zur Natur
und zum Wandern geerbt. Schon als kleine Kinder nahm er uns regelmäßig mit in
den Wald und in die Berge. Dabei wurden wir nicht geschont, was uns nicht
geschadet hat. Aber im Gegensatz zu mir kannte er jeden Baum und Strauch.
Leider habe ich sehr viel von dem, was mein Vater uns erklärt hatte, wieder
vergessen. Aber wie schön es ist, einen Käfer auf einem Blatt zu beobachten,
den Vögeln zuzuhören
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