Das Leben in 38 Tagen
Ich möchte niemanden
beschuldigen, aber die Freude auf die Kur, auf die ich ein Jahr gewartet hatte,
war mir damit gründlich genommen worden. Mir ging nur noch ständig das Lied von
den Prinzen durch den Kopf: ,Du musst ein Schwein sein
in dieser Welt, du musst gemein sein in dieser Welt!’
Heute
ist mir klar, warum ich diese Krankheitssymptome hatte; mein Körper sagte: ,Halt , so geht es nicht weiter, wenn du nicht auf deinen
Verstand hörst, so musst du körperlich leiden, bis du etwas in deinem Leben
änderst.’ Ich hatte meine Eltern gepflegt, meine Kinder großgezogen, nebenbei
noch gearbeitet, am Haus angebaut und innen alles umgebaut, einen großen Garten
und Hasen und Hühner versorgt. Ohne die Hilfe meines Mannes und später auch die
Hilfe meiner Schwester hätte ich das nicht schaffen können, aber heute brauche
ich mich nicht zu wundern, wo meine Kraft, meine Energie und meine Geduld
geblieben sind. Letztere muss ich ganz langsam wieder lernen, denn sie braucht
man unbedingt zum Leben.
Lernen
muss ich auch, mein ausgeprägtes Mitgefühl und meine Empfindsamkeit in die
richtigen Bahnen zu lenken. Ich darf nicht mit anderen mitleiden. Diese
schmerzliche Erfahrung musste ich in meiner nächsten Arbeitsstelle in einer
anderen Allgemeinarztpraxis machen. Immer wieder, wenn ich mit Krebspatienten
zu tun hatte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter und ich suchte bei mir
nach Symptomen, die die Patienten hatten. Mehrmals ließ ich bei mir eine
Darmspiegelung durchführen, obwohl das für mich großen Stress bedeutete.
Vielleicht hätte ich lieber zum Psychologen gehen sollen, dann wäre es
vielleicht nicht eskaliert, aber wer geht schon gern zum Psychologen!
Ich
hatte neun Jahre in der Arztpraxis gearbeitet, in der es mir sehr gut gefiel,
als die Situation eskalierte. Eine Freundin seit der Schulzeit erkrankte
plötzlich unheilbar an Lungenkrebs und hatte mich zu ihrem Retter erkoren, weil
ich ihr dummerweise und in Unkenntnis des Befundes (die Ärzte hatten erst „nur“
einen Gehirntumor vermutet) falsche Hoffnungen gemacht hatte. Ich ging den
ganzen Weg von zehn Monaten mit ihr bis zum Ende und blieb auch nicht weg, als
ich spürte, dass ich keine Kraft mehr hatte.
In
den neun Jahren war ich fast nie krank gewesen, ich funktionierte immer und
hörte nicht auf meine Bedürfnisse. Ich wollte immer den anderen helfen, aber
mit dem Leiden und dem Tod meiner Freundin wurden auch die alten Wunden wieder
aufgerissen und ich brach plötzlich psychisch und physisch zusammen.
Auch
hierbei hatte mich besonders belastet, dass sie sich nicht mit dem Tod abfinden
wollte, als es keine Hoffnung mehr gab, genau wie mein Vater. Beide kämpften so
sehr gegen das Sterben, dass es körperlich schmerzte, zuzusehen.“
Ich
redete und redete und konnte nicht mehr aufhören, weil es mich so sehr bewegte.
Manchmal hilft es schon, wenn jemand nur zuhört, und ich staunte dabei über
mich selbst, wie ich mein Leben und meine Gefühle in Englisch ausdrücken
konnte. Die beiden waren sichtlich gerührt und umarmten mich plötzlich.
„ And than , what’s happened to you at forwards ?”,
wollten die beiden wissen.
„Come on, let’s go, I will
speak while we are walking away, okay? ”, antwortete ich , während ich aufstand .
Wir
packten unsere Sachen zusammen, zogen die Schuhe wieder an, nahmen die Sorgen
auf den Rücken und liefen zusammen weiter. Ich erzählte, dass ich nach dem Tod
meiner Freundin ein halbes Jahr krank war und mir der Arzt während einer
psychosomatischen Kur von einer Arbeit mit krebskranken Patienten abriet. Er
sagte, ich müsse lernen, „nein“ zu sagen und zu akzeptieren, dass ich etwas
nicht kann oder nicht mehr kann. Sonst würden meine körperlichen Symptome, die
bis jetzt nur eine psychische Ursache hätten, immer wiederkommen und irgendwann
wirklich zu einer physischen Krankheit führen.
Ich
habe sehr lange gebraucht, um mich körperlich zu erholen, und noch länger, um
das alles im Kopf zu verarbeiten. Auch das Problem des Loslassens spielte eine
große Rolle. Warum können Menschen ihr Leben nicht loslassen, wenn sie glauben,
dass es noch ein Leben nach dem Tod gibt, oder glauben sie das gar nicht? Warum
wollen sie die Wahrheit nicht sehen, kämpfen lieber einen aussichtslosen Kampf,
anstatt die Chance zu nutzen, sich zu verabschieden, ungeklärte Dinge zu regeln
und sich auf den Tod vorzubereiten? Machen sie es damit nicht nur sich selbst,
sondern auch ihren Nächsten nicht viel
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